Ach!

Am Sonntagmorgen

Gemeinfrei via unsplash.com (Jad Limcaco)

Ach!
Von der Kunst des Staunens
24.12.2017 - 08:35
16.11.2017
Susanne Niemeyer
Über die Sendung:

Weihnachten im Anfängermodus: Wann hast du zum letzten Mal etwas zum ersten Mal gesehen? Wann ging ein Fenster auf in eine andere Welt - und bevor du verstanden hast, was geschah, war es wieder geschlossen? Autorin Susanne Niemeyer (u.a. "Der Andere Advent") schreibt an das Weihnachtsfest: eine Liebeserklärung an den Sinn des Staunens! Der Cellist Torsten Harder hat die Musik dazu komponiert.

"Am Sonntagmorgen" um 08.35 Uhr im Deutschlandfunk

 
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Liebes Weihnachtsfest, sechsundvierzig Jahre feiern wir jetzt schon zusammen. Es war nicht immer einfach. Du hast dich verändert und ich habe mich auch verändert. Mal hast du mit Lametta um dich geworfen und mal habe ich allein in meinem Zimmer gesessen. Es war still und überraschend. Mal waren wir Fremde – du in der Welt und ich bei den Schwiegereltern in spe. Zusammen haben wir uns im Rhythmus der alten Worte gewiegt. Du hast die schönsten Lieder und wir haben auch die längste Predigt tapfer angehört, um dann endlich aufzustehen und aus voller Kehle O du fröhliche zu singen. Egal, wie schief.

Liebes Weihnachtsfest, wir waren nie heil. Die Welt lag im Krieg, ich hatte Liebeskummer. Du kamst trotzdem. Oma starb, Papa starb, du kamst trotzdem. Die Wohnung war nicht fertig, die Kisten waren notdürftig mit Lichterketten geschmückt, du kamst trotzdem. Ich verweigerte mich, ich fand, wir zwei bräuchten mal eine Pause, und du kamst auch dieses Mal trotzdem. Du setzt meiner Welt deinen Glanz entgegen. Das mag ich an dir.

 

 

Ich war mal klein. Da war Weihnachten einfach. Am 24. Dezember wurde ein Baum ins Wohnzimmer geschleppt, die Tür ging zu und ich musste draußen bleiben. Mein Bruder auch. Wir versuchten durch das geriffelte Glas einen Blick ins Innere zu erhaschen, wir hörten Rascheln und Flüstern und unsere Herzen klopften im Wettlauf. Obwohl ich wusste, dass da drin niemand anderes war als Mama und Papa, berührte mich etwas Größeres. Ein Geheimnis. Klar: Teil dieses Geheimnisses war die Frage, ob ich wohl in diesem Jahr das Playmobil-Piratenschiff bekomme. Jesus in der Krippe spielte in unserer Familie eine eher untergeordnete Rolle. Trotzdem war meine Weihnachtswelt größer als mein Wunschzettel. Ich ahnte: Diese Tage sind etwas Besonderes. Ich rechnete mit allem: Dass es schneit und dass zwischen den Flocken Engelshaar schwebt. Dass in der Dämmerung gute Mächte unterwegs sind. Dass die Vögel und die Füchse im Wald heimlich ihr Fest feiern. Dass die ganze Welt den Atem anhält und lauscht. Ich hätte jedes Wunder für möglich gehalten.

Keines habe ich je gesehen. Keinen Engel und auch kein Christkind. Doch das störte mich nicht im Geringsten. Es konnte meiner Weihnachtsfreude nichts anhaben. Ich war nicht kleinlich. Ich rechnete nicht auf. Dass ich das Wunder für möglich hielt, reichte. Die Welt umgab ein Zauber, und in diesem Zauber fühlte ich mich geborgen.

 

 

 

Dann wurde ich groß. Und die Decke wurde zu klein. Ich lernte zu denken und die Dinge zu hinterfragen. Ich lernte, dass Wunderkugeln nicht aus Wundern bestehen, sondern aus viel Zucker und noch mehr Farbstoffen. Die Welt ist aus Beweisen gemacht. Wahr ist, was man sieht. Weihnachten wurde zu einer Herausforderung. Nicht allein wegen der Frage, wie man es schafft, als Scheidungskind alle Teilfamilien zu besuchen und dabei auch noch drei Mal Pute mit Rotkohl zu essen. Nein. Die größere Schwierigkeit lag darin, dass ich die schwangere Jungfrau auf einmal wörtlich nahm. Ich verlernte das Staunen. Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass die Krippe im Stall mehr als unwahrscheinlich ist. Dass es keine Volkszählung gegeben hat und dass ein Stern von Bethlehem in keinerlei astronomischen Aufzeichnungen erwähnt wird. Die Weihnachtsgeschichte wurde langweilig. Es war, als hätte jemand das große Licht angeknipst. Plötzlich sieht man die Macken im Weihnachtsschmuck. Der Goldstern ist aus Blech.

 

Zum Glück wehrte sich mein Herz. Und es wehrt sich noch immer. Es hat nichts gegen meinen Verstand, eigentlich verstehen sich die beiden ganz gut. Aber mein Herz hat etwas dagegen, wenn mein Verstand die Alleinherrschaft für sich beansprucht. Und dazu neigt er manchmal. Mein Herz will staunen. Es will berührt werden. Mein Herz analysiert nicht, es gibt sich hin. Mein Herz will Weihnachten. Es will, dass die Welt an diesem Tag den Atem anhält, wenigstens einmal im Jahr. Mein Herz ist weit, wo mein Verstand eng wird. Mein Herz will glauben, dass viel mehr möglich ist als ich denke.

 

 

 

Staunen ist der Anfang von allem. Wer staunt, ist für einen Moment sprachlos. Ach!

Das muss man aushalten können. Einen Moment nicht reden, nicht besser wissen, nicht witzeln, nicht spotten, nicht kennen, nicht einordnen. Einfach: Ach!

Wer staunt, setzt sich dem Ungewissen aus. Es ist keine Kapitulation vor dem Denken, sondern eine Übung, über den eigenen Horizont hinauszusehen.

Ob Jesus tatsächlich in einer Futterkrippe zur Welt kam, ob die ersten Besucher einen Turban oder ein Kopftuch trugen und welcher Stern da am Himmel stand – das ist doch höchstens für Besserwisser wichtig. Egal, ob atheistisch oder fromm. Viel spannender finde ich die Frage: Was würde das denn bedeuten, wenn es so gewesen wäre?

Dann wären wir wie Träumende, die eine Welt sähen, in der arme, hilflose Menschen Gottes Gesicht tragen. Dann kann Gott überall zur Welt kommen. In einem Stall, unter einer Autobahnbrücke, in einem einsamen Wohnzimmer im 13. Stock. Dann zeigt sich Gott nicht nur den Priestern und den Frommen, sondern jedem, unabhängig von seiner Religion, seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft. Dann hängt Gottes Welt nicht von den Umständen ab. Engel singen auf Feldern, in Supermärkten, im Krieg.

 

 

Staunen ist eine Haltung. Nichts, was man eben mal an- und dann wieder ausknipst. Wer staunen will, muss wach sein. Muss seine Sinne auf Empfang schalten und das nicht nur an den naheliegenden Orten. Vielleicht mögen Engel lieber Fußgängerzonen als Kirchen. Wer weiß das schon.

Manchmal berühren mich die Lichter im Regen. Mein Nacken ist feucht und der Wind fährt in jede Ritze. Ich repetiere die Einkaufsliste und was sonst noch zu tun ist. Und plötzlich sehe ich die Lichter. Es sind nicht mal die weihnachtlichen Lichter der Sterne in den Fenstern, es sind schlicht die Lichter der Autos, wie sie verschwimmen auf den nassen Gläsern meiner Brille, wie sie sich spiegeln in den Pfützen. Und ich staune. Dass ich etwas so Banales so schön finden kann.

Autos sind nicht romantisch. Sie schleudern Dreck in die Luft. Und wenn man Pech hat, nehmen sie einem die Vorfahrt. In meinem weihnachtlichen Herzen ist eigentlich kein Platz für Autos. Da gehört Vanille hinein und Kerzenschein und das Lied vom leise rieselnden Schnee. Alle Jahre wieder schön. Aber zum Staunen bringt mich das nicht. Staunen lässt mich ein Moment, mit dem ich nicht rechne. Ein Gefühl, das eigentlich in einer ganz anderen Spur läuft als die Situation, in der es auftaucht. Staunen lässt mich etwas Schönes im Hässlichen. Etwas Zartes im Rohen. Helles im Dunkel. Ein plötzliches Gefühl von Geborgenheit am Rand einer vierspurigen Straße. Das ist das Wunder. Ein Baby im stinkenden Stall. Gott außerhalb der Himmel.

 

Ich habe mich schon immer gefragt, wie eine so rohe Geschichte wie die Weihnachtsgeschichte so romantisch interpretiert werden kann. Da ist ja nicht viel Schönes: Ein ungeplantes Kind, ein Esel, aber kein Haus, ein abweisender Wirt, ein kalter Stall, ein mordender König, eine Flucht ins Ungewisse. Nichts, wonach man sich sehnt. Und trotzdem eine Sehnsuchtsgeschichte. Vielleicht, dass alles gut werden soll. Wie im Märchen. „Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.“

Das ist Kinderglaube. Darüber kann man spotten. Aber das Kind in mir kann staunen, weil es nicht alles wissen muss. Es kommt damit klar, dass nicht alles logisch ist. Das Kind in mir hat sich das Sehnen nach einer heilen Welt bewahrt. Das Schicksal und die Erfahrung, Zynismus und Pragmatismus sind ihm fern. Es will getröstet und geliebt, gehalten und beschützt werden. Auch deshalb feiere ich Weihnachten. Für dieses Kind.

 

 

 

Gott kam als Kinderseele zur Welt. Das ist merkwürdig. Er hätte diesen Schritt doch genauso gut überspringen können. Ein Gott, der in die Hose macht, kann schnell ein Autoritätsproblem kriegen. Trotzdem hat er sich in eine Krippe gelegt und sich den anderen überlassen. Die ihn wickeln, stillen, füttern. Die ihm zeigen, wie man geht, die ihn an sich drücken. Die ihn schützen vor dem Bösen, vor den Häschern und vor allzu steilen Treppen.

Vielleicht wollte er es allen zeigen. Vielleicht wollte er vormachen, wie das geht: Mach dich verletzbar. Nur so bist du echt. Hab Vertrauen. Rechne nicht. Greif zu, wenn sich dir etwas bietet (und lerne, dass du nicht alles haben kannst). Bleib neugierig. Lache, wenn du lachen willst und weine, wenn du traurig bist. Vergiss die Wut nicht, sie gehört zu dir. Fürchte das Scheitern nicht. Frag, was du wissen willst. Spar dabei den Tod, Wunder und andere Alltäglichkeiten nicht aus. Liebe deinen Körper. Lass dich berühren, wenn auch nicht von jedem. Wirf dich in die Waagschale. Staune, zweifle, liebe. Halte vieles für möglich.

 

 

 

Möglich, dass mir Gott eines Nachts im Traum begegnet. Es ist dunkel. Alles schläft. Draußen scheint ein Stern. Ich stehe an der Krippe und schaue hinein. Gott selbst liegt dort auf Heu und auf Stroh. Ich beuge mich hinab, um ihn anzusehen, da höre ich eine Stimme: „Gib mir einen Namen“, sagt sie, und die Stimme meint mich. Ich sehe Gott an und ich sehe die ganze Welt in seinem Gesicht und alles darüber hinaus. Ich kann mich nicht satt sehen. Was für eine Aufgabe, denke ich, kein Name scheint mir genug. Jesus, fällt mir ein, Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst, aber das alles trifft es nicht. Kein Name kann fassen, was ich sehe. Und schließlich denke ich: „Ach!“ Nur: „Ach!“ Das ist mein Name für Gott.

 

Frohe Weihnachten!

 

 

 

 

 

 

Musik dieser Sendung: Cello, Torsten Harder, Zippelow

16.11.2017
Susanne Niemeyer