Der unbeliebte Bruder

Am Sonntagmorgen
Der unbeliebte Bruder
Überlegungen zur Josefsgeschichte
05.06.2016 - 08:35
11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert

Über die Sendung

In der Bibel sind es immer wieder die Außenseiter, die schließlich zu Rettern der Gemeinschaft werden. Das gilt besonders für Josef, den elften der zwölf Söhne Jakobs. Hübsch und begabt, gefühlvoll und geschwätzig ist er seinen Brüdern ein Dorn im Auge und wird am Ende doch derjenige sein, durch den Gott gedenkt, „es gut zu machen“. Thomas Mann sah in Josef „ein Künstler-Ich von halsbrecherischer Egozentrik“, das schließlich seinen „Weg ins Soziale“ findet, und setzte ihm mit „Josef und seine Brüder“ ein großes literarisches Denkmal. Biblisch gelesen, zeichnet die Josefsgeschichte aber auch einen langwierigen Geschwisterkonflikt nach, der endlich in versöhnter Gemeinschaft endet.

 

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Es heißt, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei. Und das gilt wohl auch für die Vätergeschichten der Bibel. Man muss sie nicht mehr kennen. Die Zeit der langen Leseabende ist auch vorbei. Sehr Viele werden es nicht sein, die „Joseph und seine Brüder“ von Anfang bis Ende gelesen haben, vier Bände, an denen Thomas Mann 17 Jahre lang gearbeitet hat. Wie komme ich also dazu, gleichsam aus heiterm Himmel heute morgen Joseph ins Spiel zu bringen?

 

Am Anfang stand eine Schnapsidee. Ein Gedankenblitz, der sich als nicht haltbar erwiesen hat. Da ja immer mal darüber gestritten wird, was die Bibel zur Homosexualität zu sagen hat, ging es mir plötzlich durch den Kopf: Joseph, der im bunten Rock zwischen seinen Brüdern herumläuft, Joseph, der vor Potiphars Weib davonläuft, Joseph, hatte der überhaupt je eine Frau an seiner Seite? Was ist, könnte Josef nicht vielleicht der Schwule in der biblischen Vätergeschichte sein? Die Frage hat mich interessiert. Natürlich ließ sich die Vermutung bei näherem Besehen nicht halten. Die Bibel taugt nun mal nicht zur Debatte von Genderfragen.

 

Aber so ganz abwegig war der Gedankenblitz auch wieder nicht, denn so viel ist gewiss: Die Josephsgeschichte am Ende des 1. Buchs Mose erzählt von einem Besonderen, der mit seinem Anderssein Anstoß erregte und darum verstoßen wurde. Sie erzählt zugleich von Gottes Vorliebe für diesen Anders-Seienden. Gerade er ist bestimmt, zum Segen für die Gemeinschaft zu werden. Erzählt wird schließlich auch, wie der gesegnete Andere sich nach Zugehörigkeit und Versöhnung sehnt. Es ist nicht alles gut nur, weil er eine große Karriere macht. Gut wird es erst, als seine Brüder einsehen: Wegstoßen ist keine Lösung. Im Gegenteil, erlöst sind wir erst, wenn wir füreinander einstehen.

 

Die Josephs-Geschichte wendet sich gegen jegliches Ausgrenzen und Abstoßen von Anders-Seienden. Der Theologe Claus Westermann sah in ihr eine Erzählung, deren Zeit erst noch kommen würde. Ich denke: Jetzt müsste sie gekommen sein.

 

 

„Jakob aber hatte Joseph lieber als alle seine anderen Söhne, weil er ihm erst im Alter geboren war, und er machte ihm einen Ärmelrock. Als nun seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn lieber hatte als seine andern Söhne, wurden sie ihm feind und vermochten ihn nicht mehr freundlich zu grüßen.“ (1. Mose 37, 3-4)

 

Zwei Sätze nur braucht der biblische Erzähler, um den Konflikt zu schildern. Zwei Sätze, in denen ein langes Familiendrama nachhallt. Denn so einfach ist es nicht, dass hier bloß ein alternder Vater sich am Nachkömmling besonders erfreut hätte. Viel verzwickter ist das Familiendrama – und wie so oft geht es dabei gar nicht um Schuld, sondern vielmehr um eine unselige Konstellation. Vater Jakob hatte nun mal die schöne Rahel geliebt, konnte sie aber nicht bekommen, ohne zuvor ihre ältere Schwester Lea zu heiraten. Und dann gebar ihm Lea Söhne, auch die Mägde seiner beiden Frauen gebaren ihm Söhne – nur die geliebte Rahel wurde nicht schwanger. Zehn Brüder waren schon da, bis Rahel endlich auch einen Sohn zur Welt brachte. Sie nannte ihn Joseph – Gott hat gegeben.

 

Joseph war das ersehnte Kind, um das Kult und Willkommen getrieben wurde. Schon das musste die älteren Brüder wurmen, um die man sich doch viel weniger gekümmert hatte. Noch schlimmer wurde es, als Rahel bei der Geburt ihres zweiten Sohnes starb. Denn jetzt war es Joseph, der dem Vater auch die geliebte Frau ersetzte – trug er doch ihre Züge, hatte ihre Augen, ihre feine Gestalt. Er war „der Schönste unter den Menschenkindern“, behauptet Thomas Mann sogar, „gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Flut, die drunten liegt“ heißt es in der Bibel. Nicht nur ein besonders schöner Junge, sondern auch ein besonders begabter. Ein überkluges Kind, darin dem Vater ähnlich, und zugleich ein verträumtes voller seltsamer Ahnungen. Kein Wunder, dass sich der Vater in diesen Sohn verliebt. Kein Wunder, dass der Bevorzugte und Besondere sich wie ein kleiner Pfau aufführt. Er redet gern und viel und erzählt dem Vater alles, was seine großen Brüder so treiben. Und immer rennt er in dem Prinzessinnengewand herum, dem Ärmelrock, den ihm der Vater schenkt – vielleicht weil er darin seiner Mutter Rahel besonders ähnlich sieht. Kein Wunder, dass die Brüder den Anblick Josephs, dieser Petze, kaum ertragen können. Und es erst recht nicht ertragen können, dass dieser Kleine der Größte unter ihnen sein will, weil er geträumt hat, wie sich die Getreidegarben der Brüder vor seiner Garbe verneigt hätten. Und auch davon, wie Sonne, Mond und elf Sterne sich vor ihm verneigt hätten. Klarer Fall für ihn – die ganze Familie muss ihm huldigen.

 

Ich weiß, dass ich auf Seiten der Brüder war, als mir die Geschichte im Kindergottesdienst erzählt wurde. Es wunderte mich gar nicht, dass sie eines Tages über ihn herfielen, als er sie bei den Herden besuchte. Natürlich wieder ankam im Prinzessinnenkleid. Ich konnte verstehen, dass sie ihn loswerden wollten. Dass sie glaubten, alles würde besser und sie hätten endlich Frieden, wenn bloß er nicht mehr da wäre.

 

Zum Glück waren sie nicht alle besinnungslos vor Hass. Ruben, der Älteste sorgte dafür, dass Joseph am Leben blieb. Das Prunkgewand nur rissen sie ihm vom Leib und warfen ihn in einen trockenen Brunnen. Es ergab sich, dass eine Handelskarawane vorbeikam – an die konnten sie den Joseph als Sklaven verkaufen.

 

Dem Vater brachten sie das zerfetzte Kleid, in Blut getränkt. Sie sagten: „Ein wildes Tier hat Joseph getötet“. Waren sie ihn nun wirklich los? Ging es ihnen besser jetzt – mit der Erinnerung an die Gewalttat im Herzen, mit dem Schmerz des Vaters vor Augen, mit der Lüge, die sie von nun an begleitete? Da, wo sie vorher rechtschaffene Empörung empfunden hatten, war jetzt eine dumpfe Scham.

 

 

„Und der Pharao sprach zu Joseph: Da Gott dich dieses alles hat erkennen lassen, gibt es keinen, der so klug und weise wäre wie du. Du sollst über mein Haus gesetzt sein und deinem Wort soll mein ganzes Volk gehorchen.“ (1. Mose 41, 39 – 40)

 

Während die Brüder das Gewesene nicht loswerden, beginnt für Joseph jetzt alles von vorn. Als Nomadenjunge gerät er in die ägyptische Hochkultur, ein Ausländer, zur Sklavenarbeit bestimmt. Aber er hat dazu gelernt in den Tagen, als er dem Tode nah im Brunnen lag. Er weiß jetzt: Anders zu sein, ist gefählich. Man muss sich anpassen. Joseph wird sich integrieren, wird Sprache, Werte und Gewohnheiten der Ägypter annehmen. Nur zu den Göttern Ägyptens bleibt er auf Distanz, denn dem Gott seiner Väter muss er treu bleiben. Schon nach wenigen Jahren ist er aufgestiegen zum Verwalter im Haus Potiphars, eines hohen Beamten des Pharao. So weit gekommen ist er aber nicht bloß, weil er schön, begabt und anpassungswillig ist. Sondern weil sein ägyptischer Herr erkennt, dass Josephs Gott alles gelingen lässt, was Joseph unternimmt.

 

 

„Von der Zeit an aber, da Potiphar ihn über seinen ganzen Besitz gesetzt hatte, segnete Jahwe das Haus des Ägypters um Josephs willen, und der Segen Jahwes ruhte auf allem, was er hatte, im Haus und auf dem Feld.“ (1. Mose 39,5)

 

Der Gott der Bibel: segnet nicht exklusiv, sondern inklusiv. Auch die Andersgläubigen haben daran teil.

 

Doch Joseph ist noch nicht da, wo er hinsoll. Lernen muss er nun noch, dass auch allzugroße Beliebtheit gefährlich werden kann. Ganz unbeteiligt ist er wohl nicht, wenn die Herrin des Hauses in Leidenschaft zu ihm entbrennt. Da hat er ja vielleicht auch seine Attraktivität bis an die Grenze ausgereizt. Ein paar hundert Seiten braucht Thomas Mann, um von der unglücklichen Liebe der Frau zu erzählen – am Ende versteht man, warum sie schließlich außer sich vor Schmerz den Joseph der versuchten Vergewaltigung bezichtigt. Ihn fertig machen will, weil er sich ihr verweigert hat. Das Beweisstück ist wiederum ein Gewand – Potiphars Frau hat es dem Joseph entrissen.

 

Joseph muss ein zweites Mal fallen – wie überhaupt alles in der Josephsgeschichte zwei Mal geschieht. Er findet sich auf einer Gefängnisinsel wieder, wo er im Nu zur rechten Hand des Aufsehers aufsteigt und darum in Kontakt kommt mit Pharaos Mundschenk und Pharaos Oberbäcker, die beide im Zuge einer Hofintrige in Ungnade gefallen sind.

 

Längst ist aus dem Träumer Joseph ein hellsichtiger Menschenkenner geworden und einer, der sich darauf versteht, die Wahrheit zu sagen, ohne Zorn zu provozieren. So fällt es ihm nicht schwer, die ziemlich durchsichtigen Träume der beiden zu deuten.

 

Als begabter Traumdeuter bleibt er in Erinnerung und wird darum übers Jahr zum Pharao selbst gerufen. Denn auch Pharao hat geträumt, zwei Träume natürlich, von sieben fetten und sieben dürren Kühen, von sieben fetten und sieben dürren Ähren. Und davon, wie die Dürren die Fetten auffressen und trotzdem dürr bleiben.

 

Pharaos Ratgeber wissen mit den Träumen nichts anzufangen, aber Joseph fürchtet sich nicht. Er sagt die Hungersnot voraus, die nach sieben guten Jahren kommen wird. Er gibt auch gleich Rat, wie Vorsorge zu treffen ist. Und so erkennt auch Pharao wie vor ihm Potiphar: Dieser Fremdling bringt mir Segen. Es stört ihn nicht, dass Josephs Segen von einem Gott kommt, zu dem die Ägypter nicht beten. Joseph soll an höchster Stelle für das Wohl Ägyptens sorgen. So will es Pharao. So will es aber erst recht der Gott der Bibel, Josephs Gott. Er will Rettung und Bewahrung nicht nur für die, die ihn anrufen. Er will auch die Andersgläubigen retten und bewahren.

 

 

Da sagten sie einer zum andern: Wahrlich, wir sind schuldig gegenüber unserm Bruder. Wir haben seine Herzensangst gesehen, als er uns anflehte, aber wir haben nicht darauf gehört.“ (1. Mose 42,21)

 

Die Hungersnot trifft auch die Jakobsfamilie im fernen Kanaan. Josephs Brüder machen sich auf, um in Ägypten Getreide zu kaufen – und tauchen eines Tages als Bittsteller vor Joseph auf, der ein mächtiger Staatsmann geworden ist. Die Brüder erkennen ihn nicht, doch er erkennt sie wohl und muss weinen. Die große Karriere hat den alten Schmerz wohl verdeckt, aber nicht geheilt. Warum gibt er sich nicht gleich zu erkennen? Warum vergibt er den Brüdern nicht gönnerhaft, wie er es sich doch leisten kann?

 

Täte er es, dann könnte sich der Knoten nicht lösen, mit dem die Brüder leben, seit sie Joseph in den Brunnen geworfen haben. So soll es nicht sein. Die Brüder sollen frei werden. Dafür müssen sie durch eine harte Schule gehen. Man könnte denken, dass Joseph sich an den Brüdern rächt, wenn er sie jetzt als Spione beschuldigt und von ihnen verlangt, sie sollten ihre Unschuld erst einmal beweisen, indem sie Benjamin, den jüngsten Bruder nach Ägypten bringen. Benjamin aber darf nicht reisen, weil Vater Jakob nicht noch einen Jüngsten verlieren will. Was sollen die Brüder tun? Sie sind dem Herrn über das Getreide ja ausgeliefert. Doch diesmal werden sie nicht wütend. Diesmal ahnen sie: So ausgeliefert war Joseph auch, als wir über ihn hergefallen sind. In ihrem Unglück werden sie sich ihrer Schuld bewusst und haben eine bange Zeit durchzustehen, bis sie endlich auf einer zweiten Reise nach Ägypten Benjamin doch mitnehmen dürfen, weil die Hungersnot den alten Vater zum Nachgeben zwingt.

 

Wieder muss Joseph weinen, als die Brüder bei ihm ankommen. Und doch treibt er sie noch ein zweites Mal in die Enge. Er schiebt Benjamin einen Diebstahl unter und fordert dann, er müsse zur Strafe als Sklave in Ägypten bleiben. Doch diesmal lassen die Älteren den jüngsten Bruder nicht im Stich, mag er auch gestohlen haben. In einer langen Rede steht Juda, der Viertälteste, ein für Benjamin und bietet sich selbst als Sklaven an. Da muss Joseph noch einmal laut weinen. Jetzt gibt er sich den Brüdern zu erkennen geben und sagt:

 

 

Macht euch keine Vorwürfe darüber, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um am Leben zu erhalten, hat mich Gott euch vorausgesandt.“ (1. Mose 45,5,)

 

Auch das Unrecht, das ihr mir angetan habt, gehört zu dem Weg, den Gott uns bestimmt hat. Jetzt kann Joseph das sagen. Und seine Brüder dürfen das glauben, weil sie die missgünstigen Ausgrenzer nicht mehr sind, die sie damals waren. Sie verneigen sich vor Joseph – gerade so, wie er es einst geträumt hat. Dabei sind sie ihm doch nun endlich ebenbürtig. Ihre Würde hatten sie eingebüßt, als sie meinten, einen anstößigen Bruder verstoßen zu müssen. Ihre Würde haben sie wieder gewonnen, als sie einen verdächtigen Bruder in Schutz nahmen.

11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert