Die Flucht nach Ägypten

Am Sonntagmorgen

Bild: gemeinfrei via unsplash.com/Mariah Reever

Die Flucht nach Ägypten
Eine alte Legende neu erzählt von Selma Lagerlöf
19.01.2020 - 08:35
12.12.2019
Gunnar Lammert-Türk
Über die Sendung:

In den Christuslegenden von Selma Lagerlöf ist es die Palme, die die Not der Geflohenen lindert. Sie sorgt sich um Maria, Josef und das Christuskind. Der imposante Baum neigt sein Haupt, lindert Not und erkennt, wem er hilft.

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„Mit dem Schreiben geht es ganz lausig. Die Gedanken stehen still, und was ich geschrieben habe, ist so langweilig, daß ich nicht fortfahren kann. Ich habe einen Sternenhimmel, eine Quelle und drei Weise beschrieben, aber sonst nichts.“ (1)

 

So äußert sich Selma Lagerlöf am 1. Juli 1900 in einem Brief an ihre Freundin und Schriftstellerkollegin Sophie Elkan. Selma Lagerlöf schreibt gerade an den „Christuslegenden“. Später sollen sie neben dem Roman „Jerusalem“ zu ihren bekanntesten Werken zählen. Doch es geht nicht so recht voran. Vermutlich, weil sie mit den Gedanken bei ihrem Roman-Projekt ist. Dafür hatte sie mit Sophie Elkan eine Reise in den Nahen Osten unternommen und bei dieser Gelegenheit eher nebenbei die Legenden gehört, die sie nun literarisch gestalten will. Nachdem sie ihren Roman abgeschlossen hatte, kommt sie mit den „Christuslegenden“ besser zurecht. Im März 1904 schreibt sie an Sophie Elkan:

 

„Ich habe viel Spaß mit diesen Legenden, die ich gewissermaßen verbotenerweise schreibe, denn ich bin ja mit dem Buch für die Volksschulen beschäftigt.“ (2)

 

Während sie an ihrem Schulbuch über Schweden arbeitet, der „wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“, genießt es Selma Lagerlöf, nebenher, ohne Druck, an den Legenden zu schreiben. 1904 erscheinen die elf Erzählungen über die Kindheit Jesu, seine Geburt und die Wirkung seines Erscheinens in der Welt. Eine trägt den Titel „Die Flucht nach Ägypten“.

 

Fern, in einer der Wüsten des Morgenlandes wuchs vor vielen, vielen Jahren eine Palme, die ungeheuer alt und ungeheuer hoch war. Alle, die durch die Wüste zogen, mußten stehenbleiben und sie betrachten, denn sie war viel größer als andre Palmen, und man pflegte von ihr zu sagen, daß sie sicherlich höher werden würde als Obelisken und Pyramiden. Wie nun diese große Palme in ihrer Einsamkeit dastand und hinaus über die Wüste schaute, sah sie eines Tages etwas, was sie dazu brachte, ihre gewaltige Blätterkrone vor Staunen auf dem schmalen Stamme hin und her zu wiegen. Dort am Wüstenrande kamen zwei einsame Menschen herangewandert.“ (3)

 

Die Hauptgestalt von Selma Lagerlöfs Erzählung ist nicht Jesus, auch Maria oder Josef sind es nicht. Sondern die Palme, die in der Wüste steht, durch die sie auf ihrer Flucht nach Ägypten ziehen. Der imposante Baum hat Mitleid mit der Familie. Er sinniert darüber, wer sie sind und warum sie sich den Gefahren der Wüstendurchquerung aussetzen.

 

 

Selma Lagerlöfs Erzählung „Die Flucht nach Ägypten“ malt eine Situation der heiligen Familie auf ihrem erzwungenen Weg ins Nachbarland aus. Und stellt anhand dieser Begebenheit das ganze Elend der Flucht vor Augen. Die Familie ist geflohen, um der drohenden Ermordung des Jesuskindes zu entkommen. Was bei Selma Lagerlöf poetisch vertieft wird, ist im Matthäus-Evangelium knapp und lakonisch zusammengefasst:

 

Als die Sterndeuter wieder gegangen waren, siehe, da erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten. Da stand Josef auf und floh in der Nacht mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten.“ (4)

 

Die Palme bei Selma Lagerlöf sorgt sich um Josef, Maria und das Kind. Zugleich ist sie erstaunt darüber, dass sie den Gefahren der Wüste bisher entronnen sind. Denn derer gibt es viele:

 

„‘Ihrer harret ein siebenfältiger Tod‘, dachte die Palme weiter. ‚Die Löwen werden sie verschlingen, die Schlangen sie stechen, der Durst wird sie vertrocknen, der Sandsturm sie begraben, die Räuber werden sie fällen, der Sonnenstich wird sie verbrennen, die Furcht wird sie vernichten.‘ Und sie versuchte, an etwas andres zu denken. Dieser Menschen Schicksal stimmte sie wehmütig.“ (5)

 

Ob Selma Lagerlöf bei ihrer Arbeit an den Christuslegenden auf das apokryphe Pseudo-Matthäus-Evangelium und ihm verwandte Texte gestoßen ist, das ist nicht bekannt. Dort jedenfalls wird die Flucht nach Ägypten reichlich ausgeschmückt. Auch wird der Grund dafür genannt, dass die flüchtende Familie gefahrlos durch die Wüste kommt. Als sie in einer Höhle rasten will, versetzen sie Drachen, die herauskommen, in Angst und Schrecken. Aber:

 

Da stieg Jesus vom Schoß seiner Mutter herab und stellte sich vor den Drachen auf seine Füße. Sie aber fielen huldigend vor ihm nieder, und nach dieser Huldigung entfernten sie sich. (…) Das Jesuskind selbst aber ging vor den Drachen einher und gebot ihnen, daß sie keinem Menschen

etwas antaten. Doch Maria und Josef befürchteten sehr, das Kind könnte von den Drachen verletzt werden. Jesus sagte zu ihnen: „Habt keine Furcht, und zieht nicht in Betracht, daß ich ein Kind bin! Ich bin nämlich immer schon vollkommen gewesen und bin es; alle wilden Tiere der Wälder müssen vor mir zahm werden.“ (6)

 

 

Auch Löwen, Wölfen und anderen wilden Tieren gebietet das Jesuskind im Pseudo-Matthäus-Evangelium. So wird auf den messianischen Frieden hingewiesen, wie er nach Jesaja zwischen den Tieren und zwischen Mensch und Tier erwartet wird. Auf Jesus wird hingewiesen als den Herrn über die Schöpfung. Der später den Sturm auf dem See Genezareth stillt, zeigt sich hier schon als Kleinkind in seiner Macht. Als Maria und Josef bei Selma Lagerlöf unter der Palme Schutz vor der sengenden Sonne suchen, schaut Maria sehnsüchtig zu den Datteln, sie wachsen in unerreichbarer Höhe. Da tritt ihr Sohn auf den Baum zu und bittet ihn, sich hinabzubeugen.

 

Die Palmenblätter rauschten, als wäre ein Orkan durch sie gefahren, und den langen Palmenstamm hinauf lief Schauer um Schauer. Und die Palme fühlte, daß der Kleine Macht über sie hatte. Sie konnte ihm nicht widerstehen. Und sie beugte sich mit ihrem hohen Stamme vor dem Kinde, wie Menschen sich vor Fürsten beugen. In einem gewaltigen Bogen senkte sie sich zur Erde und kam endlich so tief herunter, daß die Krone mit den bebenden Blättern über den Wüstensand fegte. Das Kind schien weder erschrocken noch erstaunt zu sein, sondern mit einem Freudenrufe kam es und pflückte Traube um Traube aus der Krone der alten Palme.“ (7)

 

Auch das Pseudo-Matthäus-Evangelium erzählt diese Begebenheit. Und findet darüber hinaus

eine Lösung für den Wassermangel, der die heilige Familie bedroht:

 

Als man alle Früchte von der Palme geerntet hatte, blieb sie in geneigter Stellung in der Erwartung, sich auf Befehl dessen wieder aufzurichten, auf dessen Geheiß sie sich geneigt hatte. Da sprach Jesus zu ihr: „Richte dich auf, Palme, und komm wieder zu Kräften! Sei Genossin meiner Bäume, die im Paradies meines Vaters stehen! Öffne aber unter deinen Wurzeln eine Wasserader, die in der Erde verborgen ist, und aus ihr sollen Wasser fließen, um unseren Durst zu stillen!“ Sogleich richtete die Palme sich auf, und an ihren Wurzeln begannen ganz klare, frische und ganz süße Wasserquellen zu sprudeln.“ (8)

 

Von der Speisung durch die Datteln der Wüstenpalme und dem Entspringen frischen Wassers aus ihren Wurzeln ist auch im Koran die Rede. Allerdings viel kürzer. Und noch etwas ist anders. Maria ist allein und Jesu Geburt steht erst unmittelbar bevor. In der neunzehnten Sure heißt es:

 

Sie wurde mit ihm schwanger und zog sich mit ihm zurück an einen weit entfernten Ort. Da überkamen sie am Stamm der Palme Wehen. Sie sprach: ‚Wehe mir! Wär ich doch vorher schon gestorben und ganz und gar vergessen!‘ Da rief es ihr von unterhalb der Palme zu: ‚Bekümmere dich nicht! Dein Herr hat unter dir ein Bächlein fließen lassen. Rüttle am Stamm der Palme - hin zu dir, damit sie frische Früchte auf dich herunterfallen lässt! Dann iss und trink, und sei guten Mutes! Wenn du dann irgendeinen Menschen siehst, so sprich: Siehe, ich habe dem Erbarmer ein Fasten gelobt; daher kann ich heute zu keinem Menschen sprechen!‘“ (9)

 

 

Bevor Selma Lagerlöfs Palme sich der Macht des Jesuskindes beugt und mit ihren Früchten die Not der geflohenen Familie lindert, hatte sie sich beim Anblick Marias an die schöne Königin von Saba erinnert. Und daran, wie es kam, dass sie, die Palme, in der Wüste wächst. In weiter Vergangenheit hatte König Salomo die Königin an diese Stelle begleitet, um nach ihrem Besuch von ihr Abschied zu nehmen.

 

Zur Erinnerung an diese Stunde“, sagte da die Königin, „pflanze ich einen Dattelkern in die Erde, und ich will, daß daraus eine Palme werde, die wachsen und leben soll, bis im Land Juda ein König ersteht, der größer ist als Salomo.“ Und als sie dies gesagt hatte, senkte sie den Kern in die Erde, und ihre Tränen netzten ihn. (10)

 

Als die Palme die heilige Familie am Wüstenrand erblickt und sie das Mitleid mit ihr ergreift, geht ein Rauschen durch ihr Blattwerk, das einer Totenklage gleicht. Die Palme weiß nicht, wem es gelten mag. Nachdem sie sich herabgebeugt und ihre Früchte dargeboten hat, erfährt sie es. Und so schließt Selma Lagerlöf ihre Erzählung „Die Flucht nach Ägypten“:

 

Als das Kind genug genommen hatte und der Baum noch immer auf der Erde lag, ging es wieder heran und liebkoste ihn und sagte mit der holdesten Stimme: „Palme, erhebe Dich! Palme, erhebe Dich!“ Und der große Baum erhob sich still und ehrfürchtig auf seinem biegsamen Stamm, indes die Blätter gleich Harfen spielten. „Jetzt weiß ich, für wen sie die Todesmelodie spielen“, sagte die alte Palme zu sich selbst, als sie wieder aufrecht stand. „Nicht für einen von diesen Menschen.“ (…) Als die nächste Karawane durch die Wüste zog, sahen die Reisenden, daß die Blätterkrone der großen Palme verwelkt war. „Wie kann das zugehen?“ sagte ein Wanderer. „Diese Palme sollte ja nicht sterben, bevor sie einen König gesehen hätte, der größer wäre als Salomo.“ „Vielleicht hat sie ihn gesehen“, antwortete ein anderer von den Wüstenfahrern.“ (11)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Dino Saluzzi, cité de la musique, Gorrión
  2. Dino Saluzzi, cité de la musique, romance
  3. Dino Saluzzi, cité de la musique, winter
  4. Dino Saluzzi, cité de la musique, how my heart sings
     

Literaturangaben:

  1. Selma Lagerlöf. Liebe Sophie. Liebe Valborg, S.94: Brief an Sophie Elkan vom 1. Juli 1900.
  2. Selma Lagerlöf. Liebe Sophie. Liebe Valborg, S.153: Brief an Sophie Elkan im März 1904.
  3. Selma Lagerlöf: Die Flucht nach Ägypten, S. 224.
  4. Matthäus-Evangelium: 2,13-15.
  5. Selma Lagerlöf: Die Flucht nach Ägypten, S. 224.
  6. Pseudo-Matthäusevangelium: 18,1-2.
  7. Selma Lagerlöf: Die Flucht nach Ägypten, S. 229.
  8. Pseudo-Matthäusevangelium: 18,1-2.
  9. Koran: Sure 19,22-26.
  10.  Selma Lagerlöf: Die Flucht nach Ägypten, S. 226.
  11. Selma Lagerlöf: Die Flucht nach Ägypten, S. 229.

 

12.12.2019
Gunnar Lammert-Türk