Digitale Revolution und Kirche

Contra el bien general, Francisco Goya

Contra el bien general, Francisco Goya

Digitale Revolution und Kirche
Netz-Kultur als ethische Herausforderung
19.07.2015 - 08:35
26.06.2015
Pfarrer Werner Thiede

Die „digitale Revolution“ schreitet voran: Immer mehr High Tech prägt den Lebensalltag. Was in den letzten Jahrzehnten an Umbrüchen begonnen hat, nimmt rasant an Fahrt auf.

 

„Die digitale Revolution wird uns fundamental verändern…“1

 

…meint der bekannte Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar. Viele Menschen freuen sich darüber und nutzen neugierig die Geräte und Chancen der digitalen Revolution. Andere zeigen sich besorgt – mit Blick auf die Risiken, die sich mit den Chancen zwangsläufig verbinden. Niemand kann sicher voraussagen, ob die Chancen wirklich größer sind als die Risiken. Fraglich ist schon, ob sich Chancen und Risiken überhaupt miteinander verrechnen lassen.

Es ist Zeit für die ethische Nachfrage angesichts der rasanten technologischen Entwicklung. Bevor wahr wird, was der Philosoph Günter Rohrmoser schon jetzt beobachtet:

 

„Das Ethische ist in die Technik hinein verschwunden. Die Ethik ist nicht mehr da.“

 

Wenn hier eine gesellschaftliche Größe besonders achtsam sein sollte, dann sind das die Kirchen. Sie setzen sich ein für das Heil und Wohl der Menschen, für Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und die „Bewahrung der Schöpfung“. Sie haben einen sozialethischen und seelsorgerlichen Auftrag. Damit sind sie angesichts der „digitalen Revolution“ gefordert. Denn deren Umbrüche betreffen die Menschen mit Leib und Seele. Heutige Technik begnügt sich nicht mehr mit äußeren Gestaltungen, sondern sie greift auch nach der Innerlichkeit, der Seele. In seinem Buch „Ego“ bemerkt Autor Frank Schirrmacher:

 

Es geht um die „Manipulation der Seele durch eine Art digitale Alchemie.“2

 

Wenn schon ein bekannter Journalist derart den Begriff der „Seele“3 zur digitalen Revolution in Beziehung setzt, können Christen dies erst recht tun. Sollten sie nicht längst warnend von einer Digitalisierung der Seele sprechen? Es ist ein biblisches Wort Jesu, das hier kritisch nachfragen lässt:

 

„Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?“4

 

Heute formuliert: Was hätte der Mensch davon, wenn er sich der ganzen Welt digital bemächtigen, aber dabei seine Seele gefährden würde?

Unter dem Begriff „Seele“ lässt sich zweierlei verstehen – und beide Verständnisse sind schon in den biblischen Schriften angelegt.

Zum einen beschreibt er die Innerlichkeit und Lebenskraft des Menschen, der sich in dieser Welt bewegt und sich dabei seiner Vergänglichkeit mehr oder weniger bewusst ist.

Zum andern meint das Wort „Seele“ das latente Bewusstsein, auf jene Macht des Umgreifenden bezogen und angewiesen zu sein, die Gott genannt wird und ewiges Leben in Aussicht stellt. Mehr noch: Die Seele wird religiös als eine Größe verstanden, die in ihrer Tiefe über das irdische Leben hinaus ragt.

Moderne Psychologie geht von einem rein innerweltlichen Verständnis von „Seele“ aus und verwendet dafür den griechischen Begriff Psyche. Aber manchen Schulrichtungen ist durchaus klar, dass diese Psyche einen bewussten oder unbewussten Gottesbezug in sich trägt. Kein Wunder, wie sehr der deutsche Begriff „Seele“ bis heute seinen angestammten Platz im Sprachschatz behalten hat! Da heißt es: Gute Worte sind Balsam für die Seele. Man kann die Seele baumeln lassen. Wellness-Angebote versprechen Wohltaten für Leib und Seele…

Deshalb hat es Sinn, zu fragen, was die digitale Revolution mit der Seele macht.

 

 

Ganz vorn steht die Frage nach dem zunehmenden Verlust der Privatheit im digitalen Zeitalter. Ein neues kirchliches Impulspapier der bayerischen Landeskirche stellt fest:

 

„Die neuen digitalen Techniken bieten Internetmonopolisten und Geheimdiensten die Möglichkeit, in private Sphären einzudringen, digitale Spuren zu verfolgen und so Zugriff zu erhalten zu Freundeskreisen, Fotoalben, Tagebüchern, dem privaten Briefverkehr und anderen, im Netz vermeintlich persönlichen Bereichen. Der christliche Glaube spricht vom Eigentumsvorbehalt Gottes an jedem Menschen, davon, dass es in jedem Menschen einen ‚heiligen Bezirk‘ gibt, in dem der Kern der menschlichen Würde wohnt und der außer Gott niemandem zugänglich ist.“

 

Dabei arbeitet High Tech längst an der „gläsernen Seele“. Nicht nur, indem der Datenschutz durchlöchert wird, sondern auch schon durch Versuche, aus Gehirnströmen Worte zu lesen und sogar das Gefühlsleben digital auszukundschaften. Der einzelne Mensch, der sich heute den Internet-Bezügen kaum mehr entziehen kann, verliert zunehmend die Kontrolle über seine Daten und seine Privatsphäre. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Medienunternehmens Axel Springer, spricht es offen aus:

 

„Datenschutz und Privatsphäre sind de facto abgeschafft.“5

 

Was machen solche veränderten Umstände mit der Seele? Der amerikanische Journalist Glenn Greenwald unterstreicht den legitimen Wunsch nach Privatheit. Er betrachtet ihn als wesentlichen Bestandteil des Menschseins6 und warnt:

 

„Auf die eigene Privatsphäre zu verzichten, um vermeintlich absolute Sicherheit zu erlangen, ist für die gesunde Entwicklung des Einzelnen ebenso schädlich wie für die politische Kultur.“

 

Seelisch macht das Bewusstsein ständiger Beobachtung Angst. Es erzeugt innerliche Unfreiheit. Wer meint, er habe doch ohnehin nichts zu verbergen, der täuscht sich über das ihm wesentliche Bedürfnis nach Intimität und Individualität hinweg. Darum gehört es zu den großen Herausforderungen der digitalen Revolution, den Datenschutz nicht den rabiaten Daten-Bedürfnissen von Firmen, Staaten und Behörden anzupassen – sondern dem seelischen Bedürfnis des Menschen.

 

 

Die umfassende Digitalisierung drängt zur Perfektion. War traditionell von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Rede, so zielt heute alles auf seine Maschinen-Ebenbildlichkeit. Man muss unbedingt funktionieren: Im High Tech-Zeitalter ist Perfektion unbarmherziger, „cooler“ Maßstab. Dazu zählt auch die ständig zunehmende Beschleunigung: Menschen versuchen teils freudig, teils verzweifelt, dem immer schnelleren Takt digitaler Technologien und Geräte zu entsprechen7. Ob die Seele da mitkommt, wird kaum gefragt. Mit Recht kritisiert das neue Impulspapier der bayerischen Landeskirche den „Totalanspruch, den die digitale Welt auf die Lebensvollzüge Einzelner und von Gesellschaften als Ganzes entwickelt hat“8:

 

„Demgegenüber hält der christliche Glaube fest, dass Vollkommenheit eine Eigenschaft Gottes ist und Menschen nach christlicher Überzeugung immer unvollkommen, unruhig, schuldig, auf der Suche sein werden – der Rechtfertigung bedürftig. … Vollkommenheit wird … einem Menschen von Gott in Glaube und Rechtfertigung geschenkt. Sie wird ihm zugesprochen, nicht erarbeitet. Daraus ergibt sich eine Absage an die Mystifizierung der Technik und an den oft von großen Netzanbietern formulierten Anspruch, man könne mit Technik die Probleme der Welt lösen und das Leben der Menschen bis zur Perfektion optimieren.“

 

Der Druck zur Perfektionierung ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite besteht in einem innerlichen Hang zum Narzissmus, wie die Psychologen sagen – also zur Selbstverliebtheit, ja Selbstaufblähung. Ein noch harmloses Beispiel dafür sind die in Mode gekommenen „Selfies“ – digitale Eigenfotographien. Insgesamt verführen die digitalen Technologien mit ihren tollen, oft magisch anmutenden Möglichkeiten zu einer Art Selbstvergötterung, zum Teil mit Sucht-Tendenzen. Allmachtsphantasien kommen auf; ein psychisches Zurücksinken in frühkindliche und irrationale Gefühlswelten mindert die Unterscheidungsfähigkeit. Das Gewissen, das Einfühlungsvermögen in andere Menschen und Lebewesen wird geschwächt. Die Seele nimmt Schaden. Der Psychologe Hans-Joachim Maaz erklärt:

 

„Ein wesentliches Symptom des Narzissmus ist die Unfähigkeit zur Empathie.“9

 

Das entspricht der „Coolness“ von Maschinen, die kein Einfühlungsvermögen kennen und keine Barmherzigkeit. Liegt in der zunehmenden Entsprechung von Mensch und Maschine der tiefere Grund dafür, dass Menschen in einer solchen Digitalisierungskultur immer weniger nach deren Auswirkungen auf sich selbst und andere fragen? Denn um fragen zu können, braucht es das bedrohte Einfühlungsvermögen.

Zu nennen sind auch gesundheitliche Störungen, die mit der digitalen Revolution einhergehen. Das kirchliche Impulspapier fasst zusammen:

 

„Mit der Technisierung der Lebensvollzüge ist eine Zunahme an Gesundheitsbeeinträchtigungen verbunden. Ständige Erreichbarkeit und die ununterbrochene Nutzung von Onlinemedien können zu Aufmerksamkeitsdefiziten, Konzentrationsstörungen sowie Stress- und Erschöpfungsphänomenen führen.“

 

Die Sorge um die Seele lässt sich nicht trennen vom Leib. Und dieser ist längst einer allgegenwärtig gewor­denen Mobilfunk-Strahlung ausgesetzt, ohne deren Fortentwicklung es kein „mobiles Internet“ gäbe. Eine Verdrängung dieser nach wie vor diskussionswürdigen Problematik hat seelische Ursachen – und paart sich mit den leichter verständlichen industriellen Interessen. Aktuell rufen fast 200 Wissenschaftler aus vielen Ländern zu mehr Schutz vor der Mobilfunk-Strahlung auf. In ihrem Appell an die UNO und die Weltgesund­heitsorganisation heißt es:

 

„… dass elektromagnetische Felder deutlich unterhalb der … geltenden Grenzwerte auf lebende Organismen einwirken. Die Wirkungen umfassen ein erhöhtes Krebsrisiko, zellulären Stress, einen Anstieg gesundheitsschädlicher freier Radikale, genetische Schäden, … Defizite beim Lernen und Erinnern, neurologische Störungen und negative Auswirkungen auf das Allgemeinbefinden der Menschen.“10

 

Kirchen haben insgesamt Anlass, die Problematik der fortschreitenden Digitalisierung ethisch zu hinterfragen. Soll die Seele wohlbehalten sein, darf die spirituelle Dimension nicht außer Acht bleiben. Denn mit der digitalen Revolution droht die Versuchung, seelische Stärkung und Hoffnung in der Virtualität des Netzes und in den Verheißungen der Technik zu suchen – und nicht mehr dort, wo allein letzter Halt und ewige Zu­kunft zu finden sind: bei Gott.

Schon gehen digitale Revolutionäre so weit, selber an der Unsterblichkeit der Seele zu arbeiten11. Manche Vordenker sind überzeugt, Unsterblichkeit werde sich in nicht zu ferner Zeit durch digitale Übertragung von Bewusstsein auf Rechner herstellen lassen. Dabei offenbaren die Naturwissenschaften selbst derartige Überlegungen als Verirrung. Denn wenn schon die Galaxien des Universums vergänglich sind, kann keine digitale Technik die Seele retten.

Umso mehr haben Theologie und Kirche Anlass, sich neu auf ihre Heilsbotschaft zu besinnen – und von da aus Kritik zu üben an einer schrankenlosen Technisierung von Mensch und Natur, von Leib und Seele – kurz: der Vergötzung des Digitalen.

 

 

Musik dieser Sendung:
(1) Jean Michel Jarre, Equinoxe, Part 1

(2) Jean Michel Jarre, Equinoxe, Part 2

(3) Jean Michel Jarre, Oxygene Part 2

(4) Jean Michel Jarre, Equinoxe, Part 8

 

Literaturangaben:

1. Ranga Yogeshwar: „Die digitale Revolution wird uns fundamental verändern“, in: mobil 6/2015, 32-34, hier 34.

2. Frank Schirrmacher: EGO. Das Spiel des Lebens, München 2013, 211.

3. Den Begriff erläutere ich in dem Aufsatz: „Du meine Seele…“, in: P. Schulze (Hg.): Beffchen, Bibel, Butterkuchen. Expeditionen ins evangelische Leben, Frankfurt a.M. 2009, 62-70 (dem Text liegt eine Sendung des Autors im DLF vom 1.11.2009 zu Grunde).

4. Markus 8,36 (hier in Anlehnung an die Luther-Übersetzung, 1984).

5. Mathias Döpfner: Die Freiheitsfalle. Ein Bericht, Berlin 2011, 22. Längst sei „die Freiheit bedroht, vor allem durch die … Abschaffung der Privat­sphäre im Internet“, heißt es weiter (19).

6. Glenn Greenwald: Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen, München 2014, 246. Nächstes Zitat 294.

7. Vgl. Werner Thiede: Die Beschleunigungsgesellschaft. Wie digitales Tempodiktat dem Posthumanismus zuarbeitet, in: Materialdienst der EZW 5/2015, 164-172.

8. Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche (Hg.): Das Netz als sozialer Raum: Kommunikation und Gemeinschaft im digitalen Zeitalter. Ein Impuls, München 2015, 14.

9. Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm, München 2012, 27.

10. Zitiert nach: http://www.diagnose-funk.org/themen/forschung/risikowahrnehmung/ wissenschaftler-appell-an-uno-und-who.php (Zugriff 15.5.2015).

11. Siehe Werner Thiede: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München 2015, 146ff, sowie Philipp von Becker: Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Zur Dialektik von Mensch und Technik in den Erlösungsphantasien des Transhumanismus, Wien 2015.

26.06.2015
Pfarrer Werner Thiede