Erbarmt euch!

Mit Händen geformtes Herz im Sonnenuntergang

Gemeinfrei via pixabay/ Photo MIX-Company

Erbarmt euch!
Die unbezahlbare Barmherzigkeit
10.01.2021 - 08:35
07.01.2021
Klaus Priesmeier
Über die Sendung:

"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
Sendung nachhören

 

Sendung nachlesen:

 „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Jesus sagt das, in der Feldrede im Lukasevangelium (6,36). Jahreslosung für 2021.

Seid barmherzig. Erbarmt euch! Für manche ist das nur eine weitere, allzu oft vergebliche Forderung. Doch sie hat das, was sie fordert, auch im Gepäck: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Und genau da sitzt die Energie, die Kraft dieses Evangeliums: in Gottes Barmherzigkeit. Da findet Jesu Aufforderung Halt, Richtung und Kraft. In dem Gott, der selber barmherzig ist. Der ein guter Vater ist. Der nimmt wahr, der sieht, der empfindet und – handelt! Seid wie dieser Vater. Seid barmherzig. Erbarmt euch!

Barmherzig – in dem Wort leuchtet etwas auf. Wie in dem Weihnachtsstern aus der Weihnachtserzählung von Marie Luise Kaschnitz. Da wirft das Kind den alten Deko-Stern in den Müllschlucker. Nun steht es da und schaut ihm hinterher: „…er glitzert, der Stern ist immer noch da.“(1)  Abgelegt wie ein Stück Müll, wozu braucht man das noch, aber leuchtend und glitzernd. Faszinierend.

Barmherzig – das meint etwas, das nach wie vor wichtig ist. Das ich nicht für mich behalten kann. Weil es Halt gibt, Richtung und Kraft.

Danach fragen die Rotenburger Werke der Inneren Mission auf ihrem letzten Neujahrsempfang. Nicht einfach weg mit solchen Worten. Es lohnt, hinterher zu hören. Die diakonische Einrichtung hat eine ganze Menge solcher Worte im Gepäck: fromm, Demut, cool, Behinderung, Emanzipation, Ehre… Ich frage nach bei den Verantwortlichen. Die Geschäftsführung teilen sich Pastorin Jutta Wendland-Park und Diplom-Kaufmann Thorsten Tillner.

 

„Auf dem letzten Neujahrsempfang wurden diese Begriffe genannt und es wurde gefragt, ob es gut wäre, sie in das nächste Jahrzehnt mit zu übernehmen – und es war erstaunlich, dass das Wort Demut den ersten Platz gemacht hat. Der Begriff Barmherzigkeit, ist der es wert – und ob? Wir sind eine diakonische Einrichtung, das bedeutet, wir stehen auf dem Fundament des christlichen Menschenbildes mit seinem Gebot der Nächstenliebe. Barmherzigkeit ist sozusagen unsere Aufgabe. Wir kümmern uns eben um Menschen mit einer Beeinträchtigung, um Menschen, die Unterstützung benötigen, damit sie ein Leben führen können – selbstbestimmt und in Menschenwürde.“

 

Wichtig und zukunftsträchtig fanden die meisten die Demut. Die steht ja dafür, die Zusammenhänge, in denen ich lebe, auch wahrzunehmen. Sich nicht absolut zu setzen. Und gemeinsam mit anderen den Raum zu entdecken, der nicht nur meiner ist, der allen offensteht. Und den Menschen miteinander auch brauchen. Leben geht also nur so, zwei Bestrebungen auszugleichen: mich einzubringen und mich zurück zu nehmen. Es braucht beides.

Beides braucht auch das Tun der Diakonie. Zum einen braucht es den Rechtsrahmen für die Institution, braucht die professionellen Abläufe für ein zielgerichtetes Tun. Doch ist das nicht alles. Barmherzigkeit ist mit dem professionellen Tun nicht aus dem Spiel. Das weiß auch Thorsten Tillner, Geschäftsführer der Rotenburger Werke. Barmherzigkeit – für ihn wesentliches Element, das Diakonie braucht, um Diakonie zu sein:

 

„Ich möchte das mal mit einem Begriff sagen, den man aus der Mathematik entlehnen kann. Die Zahlen, dieses Kaufmännische, das ist notwendig, aber es ist definitiv nicht hinreichend für das, was wir hier tun. Summa summarum würde ich sagen, es kommt ganz entscheidend darauf an, wie die Menschen ihre Arbeit hier bei uns tun, und das müssen sie letzten Endes mit dem Herzen tun. Das ist ganz entscheidend. Mir ist da so ein Wort in Erinnerung… `von ganzem Herzen – Diakonie´. Und das ist das, was wir schon erwarten, und was die Mitarbeiter hier auch leben. …“

 

Von ganzem Herzen also, Barmherzigkeit. Das Herz in der Mitte. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Was zum äußeren Funktionieren nötig ist, das lässt sich in Zahlen fassen. Aber was menschlich geschehen soll, braucht das Herz.

 

 „Es sollte eigentlich das Fundament und die Gesamthaltung sein, der Spirit, von dem man heute auch spricht, das ist einfach entscheidend dabei, dass die Menschen eine bestimmte Haltung haben, dass sie es tun, weil sie spüren, das ist eine sinnvolle Aufgabe. Ich gebe damit etwas, und das bekomme ich oft doppelt zurück. Und das sind Erfahrungen gerade in der Diakonie, die ausgesprochen wertvoll sind und darauf vertrauen und darauf bauen wir.“

„Barmherzigkeit hat immer ihren Platz, das ist nicht das letzte Mittel, was uns dann noch irgendwo einfällt, wenn sonst nichts mehr trägt, sondern es ist ein Grundkonstrukt, auf dem wir hier aufsitzen. Ohne Barmherzigkeit, ohne Ansehen des Menschen, ohne zu erkennen, dass wir einen Menschen mit Behinderung genauso ansehen wie wir selber angesehen werden wollen, geht es schlicht und ergreifend nicht. Das ist Kern unserer Arbeit und definitiv nicht nur letztes Mittel.“

 

Barmherzigkeit als Kern des Christlichen ist ein Wort der Bibel. Ein Ur-Wort.

Barmherzigkeit taucht auf wie ein Wort im Strom, ein Treibholz im Fluss, und das nicht allein zu Weihnachten und im Weihnachtsoratorium. Barmherzigkeit ist nicht zufällig. Aber sie taucht auch nicht auf als ureigenes Wesensmerkmal des Menschen. Der Strom des Evangeliums lässt Barmherzigsein auf einen zutreiben wie etwas, das von Gott her dem Menschen zutreibt.(2) „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Ich tauche ein in diesen Strom mit dem Lukasevangelium, 6. Kapitel. Ich spüre das Wasser, vertraue mich und mein Boot der Strömung der guten Botschaft an. Sie nimmt mich mit, treibt mich. Ich sehe, wie Jesus die Jünger beruft, zu ihnen und anderen Menschen spricht er. Ich höre von der Kraft, die von Jesus ausgeht. Diese Kraft zieht Menschen zu ihm hin. Sie suchen ihn – sie, die Armen und Hungernden, die Weinenden, die Missachteten und angeblich Überflüssigen. Gott hat ein Herz für sie. Der arm-herzige Gott! Eins zu werden mit ihm, das lässt Menschen sich freuen, das lässt sie sogar vor Freude tanzen.

Es ist dieses Einssein mit Gott, Gottes barmherzige Fülle, aus der Menschen leben und wirken können; Segen setzen gegen Feindschaft und Fluch, Freigebigkeit gegen Raub und Ausbeutung, Liebe gegen Gleichgültigkeit.

Als Mensch dort bleiben, wo menschlich nichts zu erwarten ist. Wie kann das gehen, wer kann so leben? Von mir aus kann ich es nicht. Das behauptet Jesus auch nicht. Doch Söhne und Töchter Gottes, von Gott geherzte Menschen, die sind auch beherzt. Und können so leben. Werden als Gottes Kinder tun, was Gott tut.

Werden, wie Gott ist. Das ist etwas anderes, etwas anderes auch als pure Ethik. Barmherzig sein wäre dann kein ethischer Anspruch, erst recht keine Methode – sie wäre eine Verwandlung, die mich von Grund auf ergreift. Die mir so widerfährt, wie der Fluss, der mich aufnimmt in seine ihm eigene Strömung. Ich selber, mein Herz, wird durchströmt und in eine andere, neue Richtung gebracht. „Werdet barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

 

Ganz anders: Das Herumbuchstabieren an einer Ethik der Barmherzigkeit, die ich von mir aus verwirklichen soll, das wäre nur wie ein Herumstochern in einem ausgetrockneten Flussbett. Das wäre keine Barmherzigkeit mehr, wenn sie nur als letzte Möglichkeit sozialen Handelns begriffen würde, die helfen soll, wenn sonst nichts mehr hilft. Barmherzigkeit als die letzte unserer Möglichkeiten – letzten Endes bliebe sie einem ungewissen Glück überlassen. Wie zufällig und wie von oben herab.

Doch so begegnet Barmherzigkeit in der Feldrede Jesu nicht. Hier ist sie Evangelium, die Möglichkeit, ja die Art Gottes. Und die ergreift auch seine Jünger. Jesu Botschaft als Lebenswasser fließt hinein in die ausgetrockneten Flussbetten – Lebenswasser aus Gottes Erbarmen. Und neues Leben erwacht.

Erbarmen ist keine Methode. Sie ist eine Art, Mensch zu sein. Sie ist die Art, ein Mensch Gottes zu sein. Und sie besteht darin, die Tiefen und das Elend menschlichen Lebens wahrzunehmen und nicht wegzuschauen. Barmherzigkeit ist zuerst nichts anderes als eine Art zu sehen.(3)
Gottes Art, zu sehen. Zu empfinden, wie es um Menschen steht. Mit zu empfinden, mit zu klagen. Präsent zu sein im wirklichen, echten Leben.

Im Weg Jesu, in diesem Weg von der Krippe zum Kreuz, zeigt Gott seine Präsenz, seine Barmherzigkeit für uns Menschen. Diesen Weg Gottes mitzugehen, das ist barmherzig sein. Als Menschen, dem Gottes Erbarmen gilt, ist es auf diesem Weg an mir, „den Mitmenschen in seiner Not zu erkennen und ihm darin beizustehen.“(4)

Mit dem Hinsehen fängt es an. Gehört das Wegsehen nicht zu unseren größten menschlichen Fähigkeiten? Wer würde denn etwa Menschen ertrinken lassen? Europäische Rechtsstaaten aber bekommen es hin, mit einem Schein des Rechts Rettungsschiffe für Flüchtlinge im Mittelmeer an die Leine zu legen. Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit in der Sorge füreinander gehören zu unseren hervorstechendsten menschlichen Eigenschaften. Wo ich dem nachgebe, lebe ich unbarmherzig. Bin nicht wie Gott Vater, dessen barmherzig-Sein auch mir gilt.

Halt und Kraft gibt mir Gottes Barmherzigkeit – und immer wieder den Anst0ß, selber barmherzig zu werden. Und nicht mehr gleichgültig und nachlässig. Barmherzig zu sein heißt: wahrnehmen, sehen, empfinden und – handeln! Jedes Menschenleben ist Teil eines größeren Lebens. Des Lebens alles Lebendigen, und des Lebens Gottes, des Barmherzigen. Seid, wie er ist. Barmherzig.

 

 „… Barmherzigkeit hat immer ihren Platz, das ist nicht das letzte Mittel, was uns dann noch irgendwo einfällt, wenn sonst nichts mehr trägt, sondern es ist ein Grundkonstrukt, auf dem wir hier aufsitzen.“

 

Und: „Euer Vater“, sagt Jesus, ist der Konstrukteur. Und der, der die Konstruktion belebt und kräftig macht. Und du, höre ich Jesus zu mir sagen – du bist mit dabei. Von Gott geherzt, und darum auch beherzt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:
1. Er ist auf Erden kommen arm, Johann Sebastian Bach, CD-Titel: Weihnachtsoratorium Ensemble Resonanz

2. Sinfonia, Johann Sebastian Bach, CD-Titel: Weihnachtsoratorium Ensemble Resonanz

3. Nun seid ihr wohl gerochen, Johann Sebastian Bach, CD-Titel: Weihnachtsoratorium Ensemble Resonanz

 

 

Literaturangaben:
(1) Marie-Luise Kaschnitz, Was war das für ein Fest?, u. a. in: Hg. Dietrich Mendt, Mache dich auf – werde Licht! Stuttgart 1994, S. 302-304, hier S. 304. Vgl. Kaschnitz, Gesammelte Werke IV, Ffm 1973

 

(2) Bereits das Erste, das Alte Testament erkennt in der Barmherzigkeit Gottes das wesentliche Grundmotiv des Glaubens. Dabei ist die Barmherzigkeit auf der Linie der Gerechtigkeit Gottes zu denken und nicht gegen sie zu behaupten (s. Hans Heinrich Schmid, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Alten Testament, in: Wort und Dienst 1973 – Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel – , S. 31-41). Hermann Spieckermann erkennt in der „Gnadenformel“ wie etwa Psalm 103,8 „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“ den gemeinsamen Nenner der biblischen Botschaft. (vgl. Hermann Spieckermann, Barmherzig und gnädig ist der Herr…“, ZAW Band 102/1990, S. 1-18)

 

(3) Vgl. Johann Baptist Metz, Memoria Passionis, S. 105: „Gott um Gott bitten heißt also, die gefährliche Erinnerung an die Botschaft und den Weg Jesu wagen, sich auf das Abenteuer der Nachfolge einlassen, das Wort Gott im Gebet als Tätigkeitswort hören und befolgen lernen. Beten als bitten, als Gott um Gott bitten, ist also ein Sich-hinein-Geben oder Hinein-Finden in diese Mystik der Gottesleidenschaft als Mitleidenschaft.“

Vgl. Johann Baptist Metz, Mystik der offenen Augen, Freiburg 2011, S. 50: „`Wachen, aufwachen, die Augen öffnen´: Diese Aufforderung durchzieht immer wieder die biblischen Aussagen. Sie kann geradezu als kategorischer Imperativ der biblischen Traditionen gelten. Danach soll das Christentum vor allem auch dies sein: eine Schule des Sehens, des genauen Hinsehens, und der Glaube dies: eine Ausstattung des Menschen mit wachen Augen, mit Augen für die Anderen, vor allem für jene, die im vertrauten Gesichtskreis zumeist unsichtbar bleiben.“ Es geht um ein „Hinsehen, das … ins Gesehene unentrinnbar verstrickt…“ – wovor man sich zum einen nicht hüten wollen sollte, zum anderen darf es nicht maßlos werden (vgl. dazu: Daniel Johannes Louw, Mitgefühlsmüdigkeit als seelische Erschöpfung…, in: Wege zum Menschen, 68. Jgg. 2016, S. 8-32). Vgl. auch „Compassion“, in: J. B. Metz, Memoria Passionis, Freiburg 2006, S. 105-107

 

(4) Hans Graf von Lehndorff, Vom Sinn der Barmherzigkeit in der modernen Welt, in: Bethel, Beiträge aus der Arbeit der von Bodelschwinghschen Anstalten Heft 5 Juli 1969, S. 12-26, hier S.13.

 

07.01.2021
Klaus Priesmeier