Fliegen lernen

Fliegen lernen

via unsplash.com/Manuel Inglez

Fliegen lernen
Von Menschen und Engeln
08.12.2019 - 08:35
18.07.2019
Susanne Niemeyer
Über die Sendung:

 Paul geht es „scheiße“, da wäre ein Engel gut. Aber so genau lässt sich nicht sagen, wie ein Engel aussieht. Und manchmal sind Schutzengel eben Schubsengel…
"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
Sendung nachhören

 

Sendung nachlesen:

Heute ist der 8. Dezember. Noch 16 Tage bis Weihnachten. Ich sitze mit diesem Freund im Café, dem es wirklich scheiße geht und denke, dass jetzt ein Engel gut wäre. Einer, der sein Leben wieder geraderückt und bessere Worte findet, als meine hilflosen Fragen. Aus dem Lautsprecher dudelt „All I want for christmas is you“. Ich klammere mich an meine Tasse und hoffe, dass Paul es nicht hört. Weihnachtslieder sind nichts für Leute mit Liebeskummer. Eigentlich ist Weihnachten überhaupt nichts für Leute mit Kummer, weil man immer gleich den Schnee mitdenkt und das Knistern eines Kamins und Leute, die lachen, weil sie sich sicher fühlen. Paul ist ein Häufchen Elend in einem ausgeleierten Wollpulli, der auch mal wieder gewaschen werden müsste. Ich fühle mich hilflos und schaue verstohlen auf die Uhr. Ich würde mich gern davonstehlen. „Vergiss es“, sagt der Engel. „Du hast hier einen Job zu tun, und der heißt Dasein.“

 

 

Engel können ganz schön ruppig sein.

 

„Warum übernimmst du das nicht?“, frage ich. „Was?“, fragt Paul und sieht mich verwirrt an. Ich gucke verwirrt zurück. Habe ich das wirklich laut gesagt? Habe ich wirklich gerade mit einem Engel geredet? Ich mustere die Anwesenden scharf. Der Typ hinter dem Tresen wischt gelangweilt die Theke. Zwei Frauen sind in ein Gespräch vertieft, in dem mehrfach das Wort „Frustrationstoleranz“ fällt. Ein alter Mann liest Zeitung. Von denen sieht keiner aus wie ein Engel. „Na und“, fragt der Engel, „du glaubst doch nicht ernsthaft, ich trage Flügel?“

 

 

Ich habe keine Ahnung, wie ein Engel aussieht. Es spielt wahrscheinlich keine Rolle.

 

In der Weihnachtsgeschichte wimmelt es von Engeln. Ihr Auftauchen löst immer Erschrecken aus. Allerdings nicht wegen der Flügel. Davon ist keine Rede. Der Engel kleidet sich in Worte. Sie heißen: „Fürchte dich nicht.“ Maria erschrickt. Josef erschrickt. Die Hirten erschrecken. Geduldig wiederholt der Engel: „Fürchte dich nicht. Fürchte dich nicht. Fürchte dich nicht.“ Als könnte man das beschließen. Als könnte man sich entscheiden, tapfer zu sein, wenn alles auf links gedreht wird. Das eigene Leben, die geträumte Zukunft, die verdiente Sicherheit.

 

Paul hat mittlerweile seine Serviette in winzige Fetzen zerrissen. Der Tisch sieht aus wie ein Schlachtfeld. Wahrscheinlich sieht sein ganzes Leben gerade aus wie ein Schlachtfeld. Er hat das nicht verdient. Er ist ein Netter, einer von den Guten. Würde jeder alten Dame über die Straße helfen und Umzugskartons aus dem dritten Stock schleppen. Sonntags kocht er Pasta für alle und manchmal ist er vormittags im Gottesdienst. Dann hat ihm erst die Kündigung vors Schienbein getreten, bevor seine Freundin entschieden hat, nicht mehr seine Freundin zu sein. Jetzt sucht er eine Wohnung. Ich würde gern sowas sagen wie „Kopf hoch! Wird schon wieder. Wenn es einer schafft, dann du!“

„Untersteh dich“, sagt der Engel. Ich zucke zusammen. „Wieso denn?“, frage ich. „Du sagst doch auch nichts anderes. Wird schon wieder – fürchte dich nicht, wo ist da der Unterschied?“ Er schaut mich schief an: „Denk nach!“

 

 

Engel sind keine Vertröster. Sie muten zu.

 

Über Omas Bett hing ein goldgerahmtes Bild: Es ist Nacht. Ein Junge und ein Mädchen stehen vor einem reißenden Fluss. Im Hintergrund zuckt ein Blitz, die Brücke wirkt wenig vertrauenserweckend. Die beiden sehen aus wie Hänsel und Gretel, nur dass keine böse Hexe auf sie wartet, sondern ein Engel hinter ihnen steht. Er hat riesige Flügel, weiß und bauschig. Dennoch nutzt er sie nicht, er fliegt die beiden Kinder nicht hinüber. Den Weg nimmt er ihnen nicht ab und auch den Sturm stillt er nicht. Die äußeren Umstände bleiben, wie sie sind. Stattdessen berührt er ihre Schultern, als wolle er sie sanft über die Brücke schieben. Der Engel ist ein Mutwort: „Fürchtet euch nicht!“

 

Ich habe noch nie einen Engel gesehen. Allerdings habe ich auch noch nie die Liebe gesehen. Aber ich kann sie spüren. Was ich auch schon gespürt habe: Eine Kraft, die mir mehr zutraut als ich denke. Manchmal feuert sie mich an. Manchmal beflügelt sie mich. Manchmal schubst sie mich. Und manchmal spüre ich einfach gar nichts. Dann übe ich, mich darauf zu verlassen, dass sie im richtigen Moment da sein wird.

 

 

Engel kommen nicht wie gerufen.

 

Engel sind fremd und unverfügbar. Wir sind keine Kumpel, die zusammen ein Bier trinken, wir sind keine Freundinnen. Als Oma starb, habe ich das Brückenbild weggegeben. Ich will keinen Engel, der wie eine Person aussieht. Der sich einnistet in meine Wohnung, lieb und dekorativ. Ich will mich nicht an ihn gewöhnen. Ich will keinen Ersatzgott, der ein bisschen menschlicher ist, ein bisschen gefälliger, ein bisschen vertrauter. Ich höre, was der Engel sagt: „Ich bin ein Diener Gottes. Niemals bete mich an. Bete Gott an.“ (1) Engel sind keine Bleibenden. Sie brechen ein in meine Wirklichkeit als Sturm oder Hauch, ich kann sie nicht fassen.

 

Paul kann es nicht fassen, dass sein Leben zerbröselt und keiner sagt: ich kümmere mich drum. Ich repariere das mal eben. Nicht mal Gott. Und der könnte ja nun wirklich einen Engel losschicken. Irgendeiner in der Menge der himmlischen Heerscharen wird schon abkömmlich sein. Aber der Himmel ist kein Dienstleistungsunternehmen. Angelos heißt zwar Bote, trotzdem glaube ich nicht, dass rund um die Uhr Flügelträger darauf warten, dass es was zu tun gibt.

Es gibt Engelrufer für 59 Euro. Das sind kleine Medaillons, die man sich um den Hals hängen kann. Ein Glöckchen im Inneren ruft den Schutzengel herbei. Es gibt auch Karten mit dem passenden Engel für jede Gelegenheit. Einen für den Trost, einen für den Schutz, einen für guten Sex. Engel als Dienstleister, die man holen kann, damit es besser läuft. In der Bibel ist es genau andersherum: Über 200 Mal tauchen Engel auf. Unvermittelt und meistens auch unverhofft. Sie stellen ein Bein, sie sagen Steh auf, Kehr um, Geh weg. Manchmal gehen sie ein Stück mit. Sie drehen Kopf und Herz in die richtige Richtung. Sie stellen eine Verbindung her, wenn Gott fern ist. Dann verschwinden sie. In der Regel sind sie namenlos, es sind Engel Gottes. Ihr Wesen ist ihr Auftrag. Sie vergehen mit der Erfüllung dieses Auftrags. (2)

 

 

Ein Engel ist ein Wort mit Flügeln

 

Gott ist ein Meister der Worte. Paul hätte lieber Taten. Wenn man eine Wohnung auflösen muss und sein Leben in Kisten packt, ist es hilfreicher, nicht nur metaphorischen Beistand zu haben, sondern jemanden, der die Ärmel hochkrempelt und fragt: Wo fangen wir an? Anfangen will Paul allerdings auch nicht. Er will zurück in die Zukunft, will, dass alles wieder hergestellt wird, so wie es mal war. Denn es war doch gut. Daran klammert sich Paul. Einmal zurückspulen bitte. Aber der Engel hat keinen Rückwärtsgang. Er stellt sich in den Weg. Er sagt: Hier geht’s nicht lang. Zurück ist keine Richtung. Und dann schubst er ein bisschen.

 

 

Manchmal sind Schutzengel Schubsengel.

 

„Los jetzt!“, sage ich zu Paul. Doch ich meine wohl eher mich selbst. Ich halte es im Bierdunst und den Wunschwolken nicht mehr aus. Wir gehen.

 

In der Nacht habe ich einen Traum:

„Agentur für Engel“ steht auf dem Schild. Schlicht und pragmatisch hat es jemand mit zwei Schrauben an die Wand gebracht. Ein Zahnarzt hat im gleichen Haus seine Praxis und ein weiteres Schild weist darauf hin, dass die Anwaltskanzlei Maier nun in der Königsgasse zu finden sei. Ich drücke die Klingel und warte. Ein Summer geht, hastig drücke ich die Tür auf. Im Treppenhaus riecht es nach scharfem Putzmittel. Die Agentur befindet sich im dritten Stock.

„Guten Tag“, sage ich zu der Person hinter dem Tresen und frage mich, ob das jetzt wohl auch schon ein Engel ist. „Das fragen sich alle“, schnarrt ihre Stimme. „Was wollen Sie denn?“

„Einen Engel“, sage ich schüchtern, weil mir der Wunsch auf einmal verwegen vorkommt und ich gar nicht weiß, ob ich mir das leisten kann. Ich habe ja keine Ahnung, wie so etwas abläuft. „Schutzengel sind aus, die wollen alle“, entgegnet die Stimme. „Der Verkündigungsengel ist auf Urlaub, Saisonarbeit, Sie verstehen. Der Drachenkämpfer ist im frühzeitigen Ruhestand mangels Nachfrage. Wo gibt es heute schon noch Drachen? Die Paradiesengel sind nicht abkömmlich. Rachengel bieten wir ungern an, die machen eine schlechte Presse. Und die Friedensengel haben Burnout.“

Ich hatte nicht geahnt, dass es so viele Engel gibt. „Ja“, fährt die Stimme streng fort, „alle denken, so einen Engel, den hätte ich gern. Der kann nicht schaden. Der tut keinem was, der will nichts Böses, der passt auf und dekorativ ist er noch dazu. Weiße Flügel soll er haben und goldenes Haar am besten auch noch. Oh – und die Harfe nicht zu vergessen! Meine Güte – wer hat den Leuten bloß solche Flausen in den Kopf gesetzt? Glauben die denn, ein Engel hätte nichts Besseres zu tun, als fromme Lieder zu singen?“

„Ich… ähm, ich weiß nicht…“, stottere ich und merke, dass ich rot werde. „Was für einen Engel hätten Sie denn noch?“

Die Person blättert in einem abgegriffenen Buch. Erst jetzt bemerke ich, dass hinter ihr eine Uhr tickt. Sie hat keine Zeiger. „Hier!“, sagt sie entschieden. „Einen Stolperengel können Sie haben!“ „Bitte was? Was soll ich denn damit?“ Sie sieht mich streng an. „Die Frage ist nicht, was Sie damit sollen, sondern was der Engel von Ihnen will.“ Langsam schwant mir, warum diese Agentur nicht bekannter ist. Dienstleistung sieht wirklich anders aus. „Also was ist? Nehmen Sie ihn?“ Ich nicke eilig, weil ich Angst habe, dass auch dieser Engel gleich vergriffen sein könnte. „Gut“, sagt die Person hinter dem Tresen und schreibt weiter in ihr Buch. Die Uhr tickt. Nichts passiert. Ich schaue mich suchend um. Schließlich wage ich es, mich zu räuspern. Die Person blickt auf. „Und?“, frage ich. „Wo ist mein Engel?“ „Keine Bange, er wird Sie finden.“ Ihr Kopf senkt sich wieder und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu gehen.

Wie mein Engel aussieht, erfahre ich nicht. Aber draußen schaue ich mich öfter verstohlen um. Irgendwo ist er und bringt mich ins Wanken.

 

 

Ein paar Wochen vorgespult. Paul ist umgezogen. Ich habe 17 Kisten gepackt und 113 Mal in unterschiedlichen Varianten wiederholt: Fürchte dich nicht. Es wurde für Paul der Soundtrack der letzten Zeit: Keine Ahnung, was kommt. Aber du kommst da durch. Fürchte dich nicht. Der Engel hat mir das beigebracht. Ich habe einfach nachgesprochen, bin eingestimmt in den Chor: Fürchte dich nicht Abraham, Elia, Maria, Josef, fürchte dich nicht Paulus, Marianne, Klaus, Meike, fürchte dich nicht Paul, Mose, Ruth, Ina, Elif. Fürchte dich nicht. Ich bin bei dir.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Les Jours Tristes, Yann Tiersen, Die fabelhafte Welt der Amelie
  2. La Valse D’Amélie, Yann Tiersen, Die fabelhafte Welt der Amelie
  3. Soir De Fête, Yann Tiersen, Die fabelhafte Welt der Amelie
  4. Le moulin, Yann Tiersen, Die fabelhafte Welt der Amelie
  5. La Redécouverte, Yann Tiersen, Die fabelhafte Welt der Amelie
  6. Comptine D’un Autre Été, Yann Tiersen, Die fabelhafte Welt der Amelie
     

Literaturangaben:
(1) Offenbarung 22,8-9

(2) „Der Engel kommt ins Sein mit seinem Auftrag, er vergeht mit der Erfüllung seines Auftrags, denn seine Existenz ist Botschaft.“ Claus Westermann: Gottes Engel brauchen keine Flügel. 

18.07.2019
Susanne Niemeyer