Ostern

Ostern
Auf der Suche nach Gott und sich selbst
16.04.2017 - 08:35
15.04.2017
Pfarrer Rainer Stuhlmann

Ostern ist kein Fest für Triumphgesänge. Ostern ist kein happy end, das die Rätsel der tragischen Lebensgeschichte Jesu auflöst. Ostern herrscht nicht die Fülle der Freude, sondern: eine große Leere.

Jesus ist brutal zu Tode gefoltert worden. Und am Ende ist auch noch sein Leichnam verschwunden. Die Freundinnen Jesu finden sein Felsengrab geöffnet und leer. Sie sind irritiert und verstört. Die Leere des Grabes treibt sie in die Verzweiflung. Am frühen Ostermorgen wird der Schmerz des Karfreitags nicht überwunden, sondern gesteigert.

Niemand weiß, warum das Grab leer ist. Was mit dem Leichnam Jesu geschieht, wird nicht erzählt. Ob das Grab geschändet und der Leichnam gestohlen wurde, bleibt zunächst offen. Der Glaube, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, entsteht durch andere Ereignisse. Nicht durch die Entdeckung seines leeren Grabes. Nein, eine biblische Geschichte von der Auferstehung Jesu gibt es nicht. Wer danach sucht, findet nur Leere.

Was erzählt wird, erstaunt allerdings auch kritische Historiker. Nur kurze Zeit nach Jesu Tod geschieht es: die totale Verzweiflung der Freunde und Freundinnen Jesu wandelt sich. Und wird zur unerschütterlichen Gewissheit, dass Jesus lebt. Für diesen Glauben sind sie sogar bereit zu sterben. Sie selber erklären diesen radikalen Wandel so:

 

„Jesus hat sich uns gezeigt. Wir haben ihn erkannt, aber zugleich blieb er uns fremd. Er ist nicht zurück gegangen in sein altes Leben. Er ist nach vorne gegangen. Er ist verwandelt worden in ein neues unbekanntes Leben. Er ist der erste der erhofften neuen Schöpfung Gottes, die mitten in der alten ihren Anfang nimmt.“

 

Also kein happy end, sondern der bescheidene Anfang des noch ausstehenden guten Endes. Die Menschen sind nicht voller Freude, sondern „voller Furcht und Freude“. Es ist diese Mischung aus Furcht und Hoffnung, aus Schmerz und Freude, die die Stimmung am Ostermorgen ausmacht. Nicht mehr als Vorfreude liegt in der Luft. Aber auch nicht weniger.

 

 

Ostern ist erst der Anfang vom guten Ende. Niemandem wird die schmerzliche Leere erspart. Sehen lässt sich Jesus nur für einen kurzen Augenblick. Er ist verwandelt in ein neues Leben. Aber sobald Menschen ihn erkennen, den ersten der neuen Schöpfung, entzieht er sich ihnen wieder. Nichts lässt er zurück, was Menschen be-greifen und festhalten können, was sie zur Verfügung hätten oder vorweisen könnten.

Was bleibt ist die Gewissheit, dass der Anfang gemacht ist, der Anfang eines guten Endes. Die Leere ist noch da, aber sie hat sich verwandelt. Aus der Leere, die in die Verzweiflung treibt, ist eine Leere geworden, die Freiheit schenkt und Hoffnung stiftet, die etwas erwarten und zu wünschen übrig lässt. Eine Leere, die zur Kreativität anstiftet. Die Fantasien hervor bringt, konstruktiv mit Leere und Lücken umzugehen.

Wie ein leeres Blatt Papier zum Schreiben oder Malen einlädt. Wie ein leeres Glas Durst macht und ein leerer Teller gefüllt werden will. Wie ein leeres Haus anregt, Möbel zu stellen und Bilder aufzuhängen.

Die Frauen, denen der lebendige Jesus sich entzieht, entdecken die Leere als die Chance ihrer Freiheit. Ihre leeren Hände lassen sie ihre Begabungen entdecken. Sie lassen sich beauftragen. Sie haben den männlichen Jüngern Jesu gleich etwas voraus. Sie werden für sie zu Apostelinnen. Sie übernehmen neue Verantwortung – erfahren ihre Wertschätzung – und genießen sie.

 

 

Verlassen zu werden von einem geliebten Menschen, das erzeugt bitteren Schmerz, eine kaum zu ertragende Leere. Das ist bei der Beendigung einer langjährigen Beziehung nicht anders als beim Tod. Dass in dieser Leere der Anfang eines guten Endes steckt, das ist nicht selbstverständlich. Das kann sich niemand selber sagen. Das muss gehört und geglaubt werden. Zu entdecken ist das nur in einem langen und schmerzlichen Prozess mühsamen Lernens. Helga kann davon erzählen – wie sie vor Jahrzehnten in dieser Leere das Leben neu entdeckt hat. Ich spüre Helgas Schmerz auch heute noch, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählt:

 

Also als ich geschieden wurde, war das ne Katastrophe für mich. Und was ich wollte dann, war nur noch weg, weg, weg, ganz weit weg… und bin dann mit meinem fünfjährigen Sohn in die USA nach Kalifornien gegangen. Aber das hat mich nur noch tiefer in die Krise gestürzt. Und ich hab dann meine Studien in Amerika abbrechen müssen. Und bin nach einem Jahr zurück nach Deutschland...das war die Tiefe, der Tiefpunkt.

 

„Tiefpunkt“ – das ist Helgas heutige Sichtweise, weil sie weiß, wie es danach auch wieder bergauf ging. Stecken Menschen mitten in verzweifelter Leere, können sie das nicht wissen.

 

Und was mir geholfen hat, die Leere in meinem Leben zu überwinden, das war eine neue Gemeinschaft, die ich gefunden hab, in der Kirchengemeinde an meinem Wohnsitzort. Da habe ich Freunde gefunden. Da hatten wir eine „Schalomgruppe“, in der ich mitgearbeitet habe und die meinem Leben einen neuen Sinn und Inhalt gegeben hat. Wir haben uns beschäftigt mit dem Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, sind auf Friedensdemonstrationen gegangen. Und da habe ich langsam, langsam gespürt: das kann ein neues Leben werden. (Und ich habe auch zwei persönliche, sehr persönliche Freunde gefunden, Gudrun und Walfryd, bei denen war ich immer am Wochenende in der Familie. Und die waren auch in der „Schalomgruppe“ und die haben mich begleitet in dem neuen Leben.) (Und die Tochter von ihnen, die Christiane, die nennt mich heute noch ihre Vizemutter.) Und dann bin ich in der Gemeinde noch in die Gemeindeleitung gewählt worden nach einigen Jahren und habe da auch nochmal neue Verantwortung übernehmen können.

 

Helga gibt das eine ganz neue Lebensperspektive. Mit einer Gewissheit, die andere ihr schenken:

 

Dass ich das Leben jetzt wieder bejahen kann, das merke ich eigentlich nicht so sehr selber, sondern das sagen mir andere. dass ich jetzt wieder fröhlicher bin und dem Leben zugewandt. Die Lücke hat sich geschlossen. Die merk ich nicht mehr. Das ist Vergangenheit. Aber eine, die mein Leben geprägt hat, die mein Leben sehr geprägt hat, aber sie ist jetzt überstanden.

 

 

Am Kreuz ist Jesus Opfer menschlicher Gewalt. An Ostern ist ihm Gerechtigkeit widerfahren. Gott hat dem unschuldig Getöteten Recht gegeben. Gott hat dem Unrecht der menschlichen Wölfe nicht das letzte Wort gelassen. Mochten die Akten auf Erden auch geschlossen sein: Höheren Orts war Einspruch erfolgt. An dem einen hat Gott ein Exempel der Gerechtigkeit statuiert.

Das eine an Ostern geöffnete Grab bekräftigt den Einspruch des lebendigen Gottes gegen den Lauf der Dinge. Unvergessen bleiben die Ermordeten, Jesu Schicksalsgenossen in allen Zeiten. Weil Gott an dem einen ein Exempel statuiert hat, ist über allen Opfern dieser Erde das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Mitten in den Gewaltgeschichten dieser Erde ist eine Hoffnungsgeschichte aufgekeimt. Auch hier erst der Anfang eines guten Endes. Zwischen dem Einen und den vielen klafft eine gewaltige Lücke. Eine Gerechtigkeitslücke.

Viele finden sich mit dieser Lücke ab. Ihr Glaubensbekenntnis heißt: „Da kann man ja doch nichts machen“.

Menschen, die vom lebendigen Jesus inspiriert sind, sagen dagegen: „Die Opfer dieser Erde verpflichten uns. Wir nehmen die Herausforderungen an. Wenn Ungerechtigkeit geschieht, wenn die Welt über Mord und Totschlag zur Tagesordnung übergeht, dann stehen wir auf.“

Die dem Auf-gestandenen trauen, stehen selber auf, sind bereit zum Aufstand. Sie werden zu einer Widerstandsbewegung gegen den Tod und „gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren“. Und wenn menschliches Bemühen um Gerechtigkeit zu schwach ist, dann bleibt, auf den einen zu hoffen, der aus dem Grab geholt wurde.

 

 

Christa zum Beispiel lässt die Gerechtigkeitslücke nicht kalt. Sie fühlt sich unschuldigen Opfern verpflichtet, übernimmt Verantwortung und setzt sich ein für Gerechtigkeit.

 

Leider Gottes ist sie nicht überall da. Ja, ja. Wir vermissen sie in vielen vielen Ländern dieser Erde. Und manchmal ja auch bei uns. Wenn es z.B. um die Flüchtlinge geht, um Menschen mit Migrationshintergrund. Wir wollen ja nicht immer nur auf die Politiker zurückgreifen, sondern es ist ja im Grunde genommen jeder Mensch gefragt, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ob das in der Familie ist oder in der Schule oder im Beruf. Gerechtigkeit gegenüber Frauen im Beruf, in der Schule gegenüber Schwächeren, dass Schüler und Schülerinnen gemobbt werden. Da ist ´ne große Gerechtigkeitslücke unter Jugendlichen, die einfach kein Verständnis dafür haben, dass sie anderen Menschen sehr wehtun oder sie sehr sehr unglücklich machen und manchmal sogar in den Suizid treiben.

 

Christa gehört nicht zu denen, die nur anderen predigen. Sie handelt ihren Überzeugungen entsprechend. Und erzählt von ihrem über dreißigjährigen ehrenamtlichen Engagement bei Amnesty International:

 

Wir bei Amnesty International, das ist eine Menschenrechtsorganisation, die weltweit agiert, wir arbeiten zu Menschenrechtsverletzungen an politisch Gefangenen, an Todeskandidaten. Und wir arbeiten zu Religionsfreiheit, dass Menschen ihren Glauben leben dürfen. Wenn wir über Schicksale erfahren, geht dieses Schicksal erst mal nach London zum Internationalen Sekretariat. Und das Internationale Sekretariat schickt Fachleute, um diesen Fall zu recherchieren. Und wenn das in festen Tüchern ist, und dann dürfen wir dazu arbeiten, z.B. die Despoten, Präsidenten oder Kanzler anschreiben mit der Bitte, um die Menschenrechte zu wahren, mit der Bitte, die Menschen frei zu lassen, dass sie ein faires Verfahren kriegen.

 

Sie weiß, auch das ist nur ein Anfang. Manchmal nur ein Körnchen in der Gerechtigkeitslücke.

 

Ab und zu sind wir auch erfolgreich, das heißt: dass wir jeden Monat in unserem Amnesty Journal erfahren, welche Erfolge wir haben, dass z.B. Folter nachgelassen hat, dass Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt wurden, dass auf einmal ein Rechtsanwalt Zugang hatte zu den Menschen in Gefängnissen, dass ne Familie mal zu Besuch kommen darf, dass Väter ihre Kinder das erste Mal sehen nach sieben Jahren.

 

Das Aufstehen und Anfangen macht Mut. Selbst, wenn nicht alles erfolgreich ist, und eine schmerzliche Lücke bleibt.

 

Das muss man aushalten. Diese Lücke müssen wir aushalten. Wir können nicht für alle Menschen Gerechtigkeit durchsetzen. Wir machen es trotzdem. Wir geben nicht auf. Wir machen mal ne Pause, aber wir bleiben dran.

 

 

An Ostern entsteht das neue Leben nicht am alten Leben vorbei. Der Leichnam Jesu ist nicht unwichtig. Verstümmelt und aufgestochen, vollzieht sich die neue Schöpfung gerade an ihr. Die Verletzungen des Karfreitags zeichnen Jesus am Ostermorgen. Aufgeplatzte Haut. Durchbohrte Knochen. Geronnenes Blut. Da ist keine Traumgestalt. Kein himmlischer Glanz. Kein Astralleib. Da sind die Spuren der geschundenen Schöpfung, der Gott die Treue hält. Das Alte wird verwandelt. Das verleiht dem Alten einen unzerstörbaren Wert, zeigt Gottes Liebe zum Fragment. Und Gottes Liebe lehrt das Leben mit Lücken und Fragmenten. Das Brüchige und Bruchstückhafte, das Zerbrechliche und Verletzbare, das ist des Lebens und der Liebe wert.

Das zu lernen, ist schwer. Es ist besonders schwer für Menschen mit erheblichen Behinderungen. Dass ich mit meinen Lücken, mit meinen Fragmenten und Hässlichkeiten liebenswert bin, das kann ich mir nicht selber sagen. Das muss ich hören. Hören und glauben wie die Menschen am Ostermorgen.

Lotte hat über Jahrzehnte geglaubt, dass sie ein hässliches Mädchen, eine hässliche Frau ist. Sie litt unter ihrem großen Übergewicht, auch weil sie seit Kindesbeinen gelernt hatte: „Dicke sind hässlich.“ Mehr und mehr entwickelte sie das Gefühl, nicht zu genügen, nichts zu können, nichts wert zu sein. Sie hatte nicht gelernt, dass Lücken und Leere zum Leben gehören und weder Wert noch Würde des Lebens mindern. Stattdessen lernte sie sich zu hassen. Mit übermäßigem Essen versuchte sie, die Leere zu füllen. Es entwickelte sich eine ausgeprägte Sucht zu essen.

 

Der Verstand hat über die Sucht, hat der keine Gewalt. Ich hab alles runter geschluckt, damit diese Leere weg war. Ich hab es wirklich richtig runter geschluckt. Ich hab meinen Kummer runter geschluckt, meinen Selbsthass runter geschluckt, meine Ängste hab ich runter geschluckt, und meine viele Arbeit -. und auch vielleicht meine Enttäuschungen runter geschluckt. Dieser Selbsthass ist schlimm.

 

Wenn Lotte das so erzählt, scheint es nur schwer vorstellbar, den Anfang für ein gutes Ende zu finden. Zu lernen, mit der Leere und den Lücken des Lebens konstruktiv umzugehen.

 

Das hab ich wirklich gelernt, indem ich an die Dinge ranging... Ich war auch in Kliniken. Ich hab mir Rat geholt. Und ich hatte Glück: Ich habe so viele Menschen um mich herum. Ich hab eine Selbsthilfegruppe gefunden. Ich habe Menschen gefunden, die mir geholfen haben, diese Leere zu füllen. Auch mein Glaube hat mir geholfen. Es ist wunderbar. Einsam bin ich wirklich nicht. Es ist schön, jetzt, wo's mir gut geht, ist auch der Kontakt zu andern ganz einfach und ganz leicht geworden.

 

Zur Lücke gehört auch das Lachen. An Ostern hat es seinen festen Ort. Nicht das triumphale Lachen, das erst am guten Ende seinen Platz hat, wenn Tod und Teufel ausgelacht werden, wenn sie verloren haben. Sondern das Lachen über die kleinen Wunder im Alltag, die der Anfang des guten Endes möglich macht. Helgas Lachen und Christas und Lottes. Oder das vieler anderer, deren österliche Wundergeschichten erzählt werden könnten und sollten. Es ist ein ungeniertes, un-verschämtes Lachen. Wie das von Lotte, wenn sie von dem Wunder erzählt, wie aus dem kleinen hässlichen Mädchen eine starke Frau wurde, die auch mit 86 noch schön ist.

 

Dass ich abstinent bin. Das ist scharf. Dass ich die Lotte bin. Dass ich… Ich hab mich… Ich find mich gut. (befreites Lachen).

15.04.2017
Pfarrer Rainer Stuhlmann