Zukunftsbeben

Kristallkugel, die von Person gehalten wird

Gemeinfrei via unsplash.com/ Sasha Stories

Kristallkugel, die von Person gehalten wird

Zukunftsbeben
Hinter morgen kommen wir nicht zurück
02.08.2020 - 08:35
30.07.2020
Björn Raddatz
Über die Sendung:
Die Zukunftsforschung kennt den Begriff des Zukunftsbebens. Bis zu einem Tag X ist alles anders, als am Tag nach diesem. Die Welt am 10. September war eine andere als die nach Nine-Eleven. Die vor dem Mauerfall eine andere als danach. Wie wird das nach der Corona-Krise sein? Geht es weiter, wie zuvor? Auch im Privaten gibt es solche Tage: Der 18. Geburtstag, der Tag der Verrentung. Und im Religiösen Leben: Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten. Stets wird ein Vorher in ein Nachher überführt und der Blick in eine neue Zukunft gelenkt.
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Die Zukunftsforschung kennt den Begriff „Zukunftsbeben“. So ganz von allein erklärt sich dieser Begriff nicht. Gelesen habe ich ihn im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und dem Nachdenken über die Zeit danach. Ein Beben – das hat den Klang von Naturgewalt. Erdbeben. Auch von Zerstörung. Und Zukunft, wie nach jeder Naturkatastrophe, hat in diesem Wort etwas von Schadensreport: „Was steht noch? Was hat gut gehalten? Was nicht?“, dann kommt der Aufbau, Weitermachen. Gerade in Verbindung mit „Zukunft“ klingt dann „Beben“ gar nicht so bedrohlich wie bei „Erdbeben“. Da ruckelt sich etwas zurecht. Und ungefähr so ist das Wort auch gemeint.

 

Bis zu einem Zeitpunkt X ist alles anders, als direkt nach diesem Ereignis. Die Welt am 10. September 2001 war eine andere als die nach „Nine-Eleven“. Die Welt vor dem Mauerfall 1989 eine andere als danach. Die Zukunftsforscherin Aileen Moeck erklärt in einem Interview: „Zukunft wird oft fälschlich sehr linear gedacht. Aber es gibt viele Faktoren, die immer wieder alles über den Haufen werfen.“

 

Das, was eben noch eine wahrscheinliche Zukunft war, ist plötzlich unwahrscheinlich geworden. Trägt nicht mehr. Ein Zukunftsbeben lässt die gesellschaftlichen Akteure umsteuern, in eine andere Richtung lenken. Veränderungen geschehen häufig ruckweise. Genau, wie jetzt in der Corona-Krise.

 

 

Zukunftsbeben – leichter ist der Effekt zu greifen, wenn man erst einmal von der großen, gesellschaftlichen Ebene ins Vertraute, ins Private blickt: Jeder kennt und durchlebt solche Tage: Der 18. Geburtstag, Wahlrecht, „Papa, gib mir die Autoschlüssel“. Vorher so nie da gewesene Freiheit. Da ändert sich was für Jugendliche – und auch für ihre Eltern. Gar nicht unerheblich und es ändert sich mit einem Ruck.

Oder die Rente, mit der schlagartig die Tage plötzlich sehr anders werden. Nicht alle stecken das leicht weg, viele haben ihren Beruf geliebt und sich über ihn definiert. Genauso im Leben von Christinnen und Christen: Taufe, Konfirmation, Hochzeit - und sogar Beerdigungen: Stets wird feierlich ein Vorher in ein Nachher überführt und der Blick in eine neue Zukunft gelenkt, die als Getaufte, Konfirmierter, Verheiratete und Witwer anders sein wird als vorher.

So etwas – nur in groß und wohl in unerwartet. So stelle ich mir „Zukunftsbeben“ vor.

 

 

So! Kristallkugel raus! In die Zukunft geschaut. Läuft es so? Kann man wirklich wissen, was die Zukunft bringt? Zumal die Zukunftsforscherin ja sagt: Es geschieht als Ruck. Zukunft geschieht nicht linear.

Auch in der Bibel gibt es so etwas wie Zukunftsforscher – so sehen viele die Propheten. Was wohl als gesichert gelten kann: Es gab sie. Die „großen Namen der Bibel“ wie Jesaja, Jeremia, Amos, lebten rund 900 bis 600 Jahre vor Christi Geburt. Die in den Erzählungen geschilderten Konflikte, Könige, Städte können als historisch gelten. Aber Wahrsager waren Propheten nicht, auch wenn sie über die Zukunft Auskunft gaben. Und die Kristallkugel ist nicht das Medium biblischer Propheten. Unter ihnen gab es verschiedene Typen, die auf verschiedene Art geweissagt haben. Die festangestellten Tempel- und Königsbediensteten auf der einen Seite – und andererseits die, die einen Auftrag Gottes spürten, teils von sich selbst sagten: „Ich bin gar kein Prophet“ - und doch weissagten.

 

Für politische und militärische Fragen holten Könige sich jeweils Expertisen von Spezialisten auf dem Gebiet der Zukunftseinschätzung ein und bezogen diese in ihre Entscheidungsfindung ein. Das Buch der Könige beschreibt:

„Und so versammelte der König von Israel die Propheten, etwa vierhundert, und sagte zu ihnen: Soll ich in die Schlacht ziehen gegen Ramot-Gilead oder soll ich es nicht tun? Da sagten sie: Zieh hinauf, damit der Herr es in die Hand des Königs gibt!“ (1Kön 22,6)

 

400 mal Ja. Der Verbündete des Königs von Israel, der König von Juda, misstraut der Einmütigkeit: Gibt es wirklich keine einzige Gegenstimme? Ein Prophet ohne Amt, ein Mann Gottes, wird gefragt - und der sagt NEIN. Die 401. Stimme macht den Unterschied.

 

Natürlich ist die Bibel kein Sitzungsprotokoll. Und keine exakte Geschichtsschreibung. Die Geschichten wurden von vielen Menschen weitererzählt und später aufgeschrieben, was in die Erzählung passt. Wenn der Prophet Recht hatte, war das erinnerungswürdig und aufschreibenswert. Es finden sich in der Bibel nur wenige Fehlprognosen von Propheten. Wenn das, was die Propheten sagen, überhaupt Prognosen sind. Und nicht später, wenn das Ergebnis historisch feststand, nachträglich aufgeschrieben wurde. Doch Lügen oder Märchen macht das aus den Prophetenerzählungen noch lange nicht.

 

 

Vieles an der Verkündigung der Propheten ist zeitlos, wird deshalb bis heute auch in Gottesdiensten gelesen – und kann auch jetzt noch in die Zukunft, in die Zeit nach der Corona-Krise sprechen.


Durch Propheten spricht Gott zu den Menschen. In einer bestimmten Situation richtet der Prophet eine Botschaft von Gott aus. Diese Botschaft kann eine Mahnung oder Gerichtsdrohung enthalten, sie kann aber auch Trost und Ermutigung spenden. Biblische Propheten wetterten gegen soziale Missstände. Sie prangerten an, dass die Schwachen unterdrückt und ausgebeutet werden. Daraus schlossen sie für die Zukunft: Gott wird solche Zustände bestrafen, der schlechte König oder das ungehorsame Volk wird durch eine Katastrophe gerichtet.

Die Corona-Krise als Strafe Gottes für schlechtes Verhalten? Nein. So denken Christen heute nicht mehr. Aber eine andere Propheten-Haltung, die erscheint mir im Zusammenhang des Zukunftsbebens um das Corona-Virus spannend:

Einerseits sind Propheten tatsächlich Prognostiker. Der Zugang lautet: „Wenn wir heute so handeln, dann wird es eine Art Katastrophe geben.“ Implizit heißt das auch: „Wenn wir heute so nicht handeln, dann wird diese Katastrophe vermieden.“ Was also muss das Volk Gottes der Bibel (oder unsere Gesellschaft heute) tun, um welche Gefahren zu bannen? Dieselbe Frage, die ja auch die Zukunftsforschung heute stellt.

 

 

Ein Ansatz der Zukunftsforschung ist statt der Prognose, die Regnose: Aus einer möglichen Zukunft wird ins Heute geschaut. Und dann überlegt, wie realistisch das Ziel ist. Und der Weg dorthin auch. Das ist etwas anderes als ein Handeln auf Sicht. Gerade rüttelt das Zukunftsbeben an der Gesellschaft. Und Weichen werden neu gestellt. Das Virus ist ein Naturereignis - nicht so sichtbar wie ein Erdbeben oder Tsunami. Aber es hat weltweit erhebliche Folgen - wirtschaftlich, sozial.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat das Buch „Die Zukunft nach Corona“ geschrieben und entwirft vier Szenarien, wohin sich die Welt entwickeln könnte.

 

Die vier Szenarien folgen zwei Achsen. Horx zieht eine horizontale Achse zwischen „lokal“ und „global“, eine vertikale von „pessimistisch“ zu „optimistisch“. Szenario 1: Die Welt könnte sich in ein „Alle gegen Alle“ zurück entwickeln. Die totale Isolation wird die neue Normalität. Die Grenzen bleiben dicht, die Kontrolle die Norm. Das zweite Szenario beschreibt einen permanenten, weltweiten Krisenmodus. Im dritten Szenario werden „Neo-Tribes“ beschrieben. Postmoderne Stammes-Gesellschaften. Die Globalisierung wird zurückgefahren, es wird lokal erzeugt und gedacht. Die Familie, der Hof, die nähere Umgebung gewinnt an Bedeutung. Aber zum Preis eines Welt-Verlustes: Es gibt eine deutliche Grenze zwischen „Wir“ und „den Anderen“. Szenario vier ist die Adaption. Hier geht die Welt gestärkt aus der Krise hervor. Sie geht flexibler um mit Veränderung. Zitat Horx: „Eines ist klar: Das gemeinsame Überstehen der Krise verhilft zu einem neuen, achtsamen Umgang miteinander.“

 

Ein neuer, achtsamer Umgang miteinander – das ist das Szenario, was erstrebenswert erscheint. Und im Sinne einer Regnose kann jetzt aus einer der möglichen Zukünfte geschaut werden, was am bisherigen Verhalten geändert werden sollte, um dorthin zu gelangen. Und es ist umgekehrt auch klar: Jedes persönliche, gesellschaftliche, politische Handeln und Wünschen ist ein Schritt in eine der vier Richtungen. Sehen wir Menschen optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft? Wollen wir unsere Probleme gemeinsam und vernetzt oder lieber allein und mit großem Abstand lösen?

 

 

 

Die Perspektive der biblischen Propheten ist klar: Arme unterdrücken, Schwache ausbeuten – das geht nicht. Das war ein Missstand, den sie anprangerten. Und während des Lockdowns wurde deutlich: Die einen verziehen sich durchbezahlt ins sichere Homeoffice, andere bangen in Kurzarbeit um ihre Jobs oder als Selbständige um ihre Existenz. Und Dritte, schlecht bezahlte Berufsgruppen, halten in Krankenhäusern und Pflegestationen, in Supermärkten und Lagern für Klopapier den Laden am Laufen. Wer ist hier systemrelevant? Die Antwort lautet heute anders als sie vor der Pandemie lautete. Corona – ein Zukunftsbeben.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm fordert: „Wer Alte, Kranke und Menschen mit Behinderung betreut, muss ein größeres Stück vom gesellschaftlichen Wohlstand abbekommen. Die Internetseite der EKD, die über Kirche in Zeiten des Corona-Virus informiert, ist überschrieben mit dem Zitat des Ratsvorsitzenden: „Als Christen leben wir nicht aus der Angst, sondern aus dem Vertrauen.“

Das gelingende Leben und das gute Miteinander - das sind christliche Themen. Der christliche Glaube formuliert die Verheißung einer gerechten Welt, von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Mit den Propheten, durch Jesus Christus. Wachgehalten in der Nachfolge durch viele Christinnen und Christen. Die Zukunft, das ist auch ihr Land. Sie zu gestalten eine gemeinsame Aufgabe aller.

Hinter morgen kommt niemand zurück – Christen weltweit können ihr Vertrauen in Gott und ihr Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einbringen. Und sie werden es tun. Auch, wenn sie auf der Seite des einen Propheten mit abweichender Haltung stehen sollten. Damit für alle aus dem Beben eine gute Zukunft wird. Und irgendwann notiert werden kann: Die Krise ist überstanden. In einer Gegenwart, die ganz anders ist als die Zukunft jetzt scheint.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Musik dieser Sendung:
 

  1. Prophet of Doom, Alan Fillip, Album: Electronic Drama Beds
  2. Fragile Truth, Gregor F. Narholz, Album: Invisible Wounds
  3. Archeologists at work, Emin Corrado, Al Gromer Khan, Album: Mother Earth
  4. After the World Ended, Udi Harpaz, Or Chausha, Harel Tsemah, Album: Scars
  5. Decide, Anthony Luka Kasirivu, Album: Trendy Urban Electronica – Drama & Lifestyle (Afro 200)
  6. Clouds, Jay Price, Album: Positive Outlook


 

Literaturangaben:

 

Links zur Zukunftsforschung:

 

Einstiegslinks zur Prophetie in der Bibel:

30.07.2020
Björn Raddatz