Gottesdienst aus der St. Catharinenkirche in Westensee

St. Catharinenkirche in Westensee
Gottesdienst aus der St. Catharinenkirche in Westensee
18.01.2015 - 10:05

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde hier in Westensee und wo immer Sie dies hören:

 

Matthias Claudius ist ein Mann mit vielen Gesichtern. Er ist der liebevolle Vater und der Freund bescheidener Genüsse. Er ist ein frommer Mann, der dessen gewiss ist: Gott sorgt für die Seinen. Er ist glücklich, am Leben zu sein, und gönnt dieses Glück allen anderen, die auf der Welt sind. Aber er mag auch „Begraben mit ansehn“: „Es ist ein rührender heiliger schöner Anblick, einer Leiche ins Gesicht zu sehen; aber sie muß ohne Flitterstaat sein.“ Claudius hat kein Verständnis für die Französische Revolution, deren Zeitgenosse er ist. In Fürsten und Königen sieht er Menschen, die im Auftrag Gottes das auf Erden Nötige veranlassen. Aber er ahnt, dass die Welt nicht so wohlgeordnet ist, wie es ihm lieb wäre. Sein „Kriegslied“, das wir jetzt hören werden, ist ein Dokument äußerster Verstörung:

 

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blass,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mit weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

 

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

 

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!                                        (In: Sämtliche Werke, 236.)

 

Geschrieben hat Claudius dieses „Lied“ wahrscheinlich nicht im Blick auf einen bestimmten Krieg, sondern zu Friedenszeiten. Umso mehr erstaunt das tiefe Erschrecken, das den Text bestimmt. Es wirkt so, als würde ein Schlafender plötzlich aus einem Alptraum erwachen, wäre noch völlig im Bann dieses Traums und wüsste sich nicht zu helfen. Er ist außerstande, eine Grenze zu ziehen zwischen sich und dem Geträumten. Er macht sich selbst verantwortlich für den Krieg. Er sieht entsetzliche Bilder und wird sie nicht los: die Geister der Erschlagnen, verstümmelte und halb tote Männer, wehklagende Väter, Mütter, Bräute. Er wird zum Ziel von Hohn und Spott: Hunger und Seuchen krähen als Gestalt gewordene Ungeheuer von einer Leich herab, sie meinen genau ihn, er ist schuld, ihm zu Ehren – und das meint in Wahrheit: zu seiner Schande – stimmen sie ihr schauerliches Geschrei an.

Wie kommt Claudius darauf, sich selbst so verwickelt zu sehen in den Krieg, noch dazu, wo um das Jahr 1775 gerade kein Krieg geführt wird, wenigstens nicht ein so grausamer, wie er ihn im Sinn hat? Du hast doch gar nichts zu tun damit, und es ist ja gar nichts, könnte man ihm entgegenhalten, beruhige dich. Aber er steht auf einmal am Rande eines Abgrunds, so scheint es. Aus der Tiefe dieses Abgrunds sieht ihn die Fratze einer unheimlichen Unordnung an. Nichts ist gut, scheint sie ihm zu sagen. Deine Überzeugung, Gott sorge für alle und für alles, lässt sich nicht halten. Auch du bist schuld daran, dass es nicht gut ist – selbst, wenn du nichts Unrechtes getan hast. Denn du bist ein Teil von Zusammenhängen, die Böses, Leid und Unrecht hervorbringen. Zu Claudius’ Zeiten denkt man so noch nicht. Erst im 20. Jahrhundert wird man in Europa verstehen, dass man Schuldzusammenhängen nicht entkommt, wenn man ein ordentliches, genügsames Leben führt. In diesem Sinn ist das Kriegslied seiner Zeit weit voraus. Es klingt wie eine Stimme, die nicht aus Claudius selbst kommt, sondern den Dichter als Instrument braucht, um sich zu Gehör zu bringen. Das Kriegslied sprengt die Bindungen des Bewusstseins, die Matthias Claudius in seiner Zeit bestimmen. Nur an einer Stelle schlägt sein frommes Bewusstsein durch, wenn er schreibt: „O Gottes Engel wehre, / Und rede du darein!“ Dass dem Krieg zu wehren sein könnte, wenn Völker, Staaten und Menschen Frieden schließen, an Versöhnung arbeiten und also den Krieg als Mittel der Politik überflüssig machen, das weiß er noch nicht. Aber wissen wir wirklich mehr als er? Nicht weit entfernt von hier werden mit entsetzlicher Konsequenz Kriege ausgetragen, die kein diplomatisches Geschick verhindert hat, die kein Appell an die Humanität, keine pazifistische Gesinnung unterbrechen kann. Und niemand unter uns könnte reinen Herzens sagen: Damit habe ich nichts zu tun. Aufrichtiger könnte am Ende nichts sein als das Gebet: „O Gottes Engel wehre und rede du darein!“ Oder: Mögest du, Gott, denen in den Arm fallen, die ihr eigenes Land und andere Länder mit Krieg überziehen ohne Rücksicht auf Menschenleben, auf Mütter, Väter, Bräute, auf Kinder, Familien und alles, was ihnen etwas bedeutet. Oder einfach die Bitte: Gott, erbarme dich.

 

Das Kriegslied ist das Gedicht eines jungen Mannes. Claudius ist etwa 35 Jahre alt, als er es schreibt. Der „Brief an meinen Sohn Johannes“ ist – wenigstens in seinem eigenen Verständnis – ein Spätwerk. Er beginnt mit dem Satz: „Die Zeit kommt allgemach heran, daß ich den Weg gehen muß, den man nicht wiederkömmt. Ich kann Dich nicht mitnehmen; und lasse Dich in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist.“ Der Vater ist 58 Jahre alt, als er sich entschließt, zu Ostern 1799 dem ältesten Sohn Johannes eine Summe der Lebensweisheit mit auf seinen Weg zu geben. Tatsächlich hat Claudius da noch fast 17 Jahre zu leben, aber schon fühlt er sich dem Tod nahe. Der Brief enthält Sätze, die nicht unbedingt ein guter Rat sind, so diesen: „Wenn du Not hast, so klage sie dir und keinem andern.“ Auch der folgende Hinweis könnte schwierig, ja, unter Umständen falsch sein: „Mische Dich nicht in fremde Dinge, aber die Deinigen tue mit Fleiß.“ In demselben Brief kommt aber auch diese bemerkenswerte Passage vor: „Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht hier nicht von ungefähr [nicht ohne Grund] in dem schlechten Rock einher [Claudius meint den vergänglichen Leib]. Denn siehe nur, alle andre Dinge hier, mit und neben ihm, sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der Mensch ist sich bewußt, und wie eine hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorüber gehen.“ Claudius unterscheidet zwischen den Menschen und den anderen Kreaturen. Tiere, Pflanzen, Erde, Wasser, Licht, Steine: Sie alle existieren, aber sie wissen nichts von sich. Der Mensch ist sich bewusst. Darum hat er eine Verantwortung, die er mit keinem der anderen Wesen teilt: „Er ist sich selbst anvertraut und trägt sein Leben in seiner Hand. Und es ist für ihn nicht gleichgültig, ob er rechts oder links gehe.“ Über Sätze wie diese kann man kaum streiten. Aber wie begründet Claudius es, dass er den Menschen verantwortlich erklärt für das Ganze der Schöpfung? „Der Mensch ist sich bewusst, und wie eine hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorübergehen.“ Gilt nicht auch für die Menschen, dass ihr Leben auf Erden wie ein Schatten ist und nicht bleibt (1. Chronik 29,15)? Ja, und natürlich weiß er das, gerade er. Dieser Brief ist ja im Bewusstsein der Vergänglichkeit geschrieben. Und dennoch dieses einprägsame, einzigartige Bild: der Mensch als eine hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorübergehen. Die Schatten ziehen vorbei, aber sie prägen sich dem Menschen ein, sie bleiben in seiner Seele haften: So stelle ich es mir vor. Der Mensch ist nicht nur Teil einer allgemeinen Bewegung – alle andre Dinge sind und gehen dahin –, der Mensch kann innehalten im Fluss der Zeit, er muss sich von ihm nicht treiben lassen, er kann entscheiden, wohin er will. Eine hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorübergehen. Auch er, der Mensch, ist ein Schatten auf Erden. Aber er ist auch ein Schattensammler, ein Archiv jener Schattenrisse, die die Dinge werfen. Sein Inneres ist bebildert mit Eindrücken, mit Erinnerungen, mit Geschichten, und sie alle lösen Empfindungen aus. Er ist eine Wand – vielleicht kann man auch sagen: eine Leinwand –, in die sich die anderen einprägen. Er ist der einzige, der alles auf sich beziehen kann. Der Mensch hat seine Zeit. Aber diese Zeit ist Teil der Ewigkeit Gottes. Darum gehört er, der Mensch, nicht nur in das Reich der flüchtigen Schatten. „Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben“, sagt Paulus (2. Korinther 4,6). Wir sind ausgespannt zwischen Erde und Himmel, haben beides in uns, den Schatten und das Licht. Es ist – Claudius würde vielleicht lächeln über diese Formulierung –, es ist eine privilegierte Position, die wir unter allen Dingen innehaben, die zur Schöpfung gehören.

In einem Trinklied, einer echten Gelegenheitsdichtung, finden sich auch diese sechs Zeilen:

 

„Herrlich ist’s hier und schön!
Doch des Lebens Schöne
Ist mit Not vereint,
Es wird manche Träne
Unterm Mond geweint.
Herrlich ist’s hier und schön!“      (Sämtliche Werke, 129f.)

 

Da ist der Mond wieder, wie er über der Lichtwiese zu Darmstadt oder über dem Westensee scheint. Wie ist es nun? Ist es herrlich und schön, auf der Welt zu sein, oder gibt es doch mehr Grund zu weinen? Claudius’ eigentümliche Melancholie ist kaum irgendwo so deutlich zu finden wie in diesen sechs Zeilen. Schöne reimt sich auf Träne; die beiden Wörter sind so innig miteinander vereint, dass sie ineinanderfließen. Was kommt hier zusammen? Das Glück, auf der Welt zu sein, der Kummer darüber, dass manches nicht gelingt, Liebesverlangen und Wehmut, Sehnsucht nach etwas, das besser ist als alles, was die Welt geben kann. Sehr unmittelbar spricht Claudius an, was alle kennen (auch wir Heutigen). Das Besondere bei ihm ist, dass er die Gegensätze in einer Zeile nennt. „Doch des Lebens Schöne / Ist mit Not vereint.“ Und: „Es wird manche Träne / Unterm Mond geweint.“ Wer hätte die Träne und die Schöne je in einem Vers zusammengebracht? Claudius weiß viel von der Ambivalenz des Lebens, selbst wenn er ein Trinklied schreibt. Er könnte sagen: Nun lasst uns vergessen, was schwer ist, lasst uns den Wein genießen und fröhlich sein. Und er sagt es auch: „Wir wollen heute / Frisch und fröhlich sein.“ Aber gleich in der nächsten Strophe spricht er von den Tränen, die unterm Mond geweint werden. Claudius scheint die Schönheit des Lebens noch stärker zu empfinden, wenn er den Schmerz nicht aussperrt. Gerade dies macht seine Gedichte so überzeugend. Wir müssen nichts unterdrücken, wenn wir ihm zuhören. Wir können heiter gestimmt sein, wenn wir es gerade sind – er wird uns die Stimmung nicht verderben. Wenn wir traurig sind, sagt er nicht: Kopf hoch, es ist doch nicht so schlimm. Er ist bescheiden, drängt sich nicht auf. Ein Narr ist Claudius gewiss nicht, auch wenn er manchmal närrisches Zeug dichtet; er führt sich aber auch nicht auf, als wäre er ein Weiser.

 

Wie ein Schrei der Begeisterung klingt es, wenn er ausruft:
„Ich danke Gott, und freue mich
Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe …“                           (Sämtliche Werke, 149.)

 

Matthias Claudius hat sich darüber gefreut, zur Welt gekommen zu sein. Vielleicht kann er bis heute diese Freude auch in denen stärken, die es nicht so leicht haben mit sich, mit dem Leben, mit der Welt. Das wäre eine starke Wirkung.

Amen