Ich liege und schlafe ganz in Frieden?!

Am Sonntagmorgen

Elisabeth Ludwig

Ich liege und schlafe ganz in Frieden?!
22.02.2015 - 08:35
05.01.2015
Pfarrerin Marianne Ludwig

„Träume sind Schäume“ weiß der Volksmund. Fliegen, unter Wasser atmen, an mehreren Orten gleichzeitig sein; im Traum verfügen Menschen über phantastische Fähigkeiten. Alles ist möglich, jedenfalls dann, wenn man sich an seine Träume erinnert. Viele Menschen sind überzeugt, dass sie nie träumen. Sie täuschen sich: Jeder und jede träumt und das drei bis viermal pro Nacht. Hirnstrommessungen zeigen: Das Gehirn ist äußerst aktiv. Typisch sind für die Traumphasen rasche Augenbewegungen, alle anderen Muskeln sind in der Regel erschlafft.

Auch wenn Träume noch so wirklichkeitsfremd erscheinen – sie sind für die Seele notwendig. Hindert man Menschen am Träumen, drohen psychische Erkrankungen. Aber warum sind Träume so wichtig? Was bedeutet dieses Geschehen, das Menschen Nacht für Nacht in fremde Welten entführt, mit übermenschlichen Kräften ausstattet und sie Dinge tun lässt, die sie sich bei wachem Bewusstsein nie gestatten würden? Ein Geschehen, das Menschen sogar an die Geheimnisse des Lebens heranführen kann...

 

In allen Religionen der Welt haben Menschen Träume als Entscheidungshilfe und sogar Quelle göttlicher Inspiration angesehen.

So auch Papst Innozenz III, bekannt für seine gnadenlosen Kreuzzüge im Mittelalter gegen jede Irrlehre. Die Entscheidung über den neu gegründeten Franziskanerorden stand damals auf Messers Schneide. Der Bettelmönch Franz von Assisi hatte gewagt, für seine Predigten kein Geld zu nehmen und lebte mit den Seinen in Armut. Zur Begründung berief er sich sogar auf das Evangelium! Der machtbewusste Papst witterte eine Provokation, doch dann hatte Innozenz III einen bestürzenden Traum: Die Mauern seiner päpstlichen Basilika brachen ein; einzig ein armseliger Mönch hielt den Einsturz noch auf. Damit war die Entscheidung gefallen: Der neue Bettelorden erhielt päpstliche Unterstützung und der Traum von Innozenz III wurde zur berühmtesten Traumvision des Hochmittelalters.

Bis heute bewegen Träume Menschen dazu, sich neu zu orientieren. Der Künstler Marc Chagall berichtet seiner Autobiographie von einer Vision, die sein Leben geprägt hat:

 

„Ein viereckiges leeres Zimmer. In einer Ecke einzig ein Bett und ich darauf. Es ist dunkel. Plötzlich öffnet sich die Decke, und mit Glanz und Gepolter steigt ein geflügeltes Wesen herab, erfüllt den Raum mit Bewegung und Wolken. Ein Rascheln von hängenden Flügeln. Ich denke: ein Engel! Ich kann die Augen nicht öffnen, es ist zu hell, zu viel Licht. Nachdem er alles in Augenschein genommen hat, erhebt er sich, fliegt durch den Spalt in der Decke hinaus und nimmt alles Licht und die blaue Luft mit. Wieder ist es dunkel. Ich wache auf. Mein Bild die Erscheinung beschwört diesen Traum.“ (Marc Chagall, Zitat aus Chagall in neuem Licht, Verlag Hatje Cantz)

 

Seit dieser nächtlichen Vision durchziehen Engel die Bilder von Marc Chagall. Nicht zufällig hat er sich auf seinem letzten Bild selbst als Engel porträtiert. Sie sind für ihn weit mehr als Musen für künstlerische Inspiration. Sie stehen für das, was unvorhergesehen in menschliches Leben einbricht, vor existentielle Entscheidungen stellt und mit der Sphäre des Göttlichen verbindet. Engel tragen für Chagall eine Botschaft in die Welt: Alles Leben auf der Erde, ob Hohes und Tiefes, Tag oder Nacht ist durchzogen von liebender Schöpferkraft.

 

Mehr als 100 Mal ist in der Bibel von Träumen und den Träumenden die Rede. Oft befindet sich der Träumende an einem Scheideweg und muss sich neu orientieren.

Wie zum Beispiel Jakob. Er muss fliehen vor seinem Bruder Esau, denn er hat sich mit einer List den väterlichen Segen ergaunert, der eigentlich dem erstgeborenen Esau zugestanden hätte.

Die erste Nacht fern von zu Hause bricht an:

 

 „Und Jakob kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ (Gen 28, 10-15)

 

Dies ist der erste große Traum, von dem die Bibel erzählt. In jener Nacht stellt sich Gott Jakob persönlich vor. Die Botschaft scheint klar: Gottes Verheißungen von Land, einer zahlreichen Nachkommenschaft und von Segen für den Erdkreis sollen nicht nur für Abraham und Isaak gelten. Jakob ist in Gottes Versprechen mit einbezogen, selbst wenn er Unrecht getan hat. Und, für den mittellosen Flüchtling in diesem Moment noch wichtiger: Er selbst steht unter dem persönlichen Schutz Gottes.

Merkwürdig bleiben die Engelserscheinungen. Die Engel, so erzählt es die Bibel, schweben auf der Leiter zum Himmel auf und nieder. Sie steigen also nicht nur vom Himmel auf die Erde herab, sondern auch umgekehrt in den Himmel hinauf. Wie soll man diesen Traum deuten? Ein Schlüssel für die Traumdeutung ist die überraschende Reaktion Jakobs am nächsten Morgen. Er begnügt sich nicht damit, diesen denkwürdigen Ort seines nächtlichen Traumes Gott zu weihen. Jakob fängt an, nun bei Tageslicht und mit hellwachem Verstand, mit Gott zu handeln. Denn Gottes Zusage ihn zu schützen findet er zu allgemein. Aber noch viel wichtiger ist Jakobs Erkenntnis: Nicht nur er ist auf Gott angewiesen, sondern auch umgekehrt Gott auf ihn! Jakob sieht sich in einer günstigen Verhandlungsposition und stellt Bedingungen, bevor er Gott Treue schwört:

 

„Wenn Gott mit mir ist
und mich auf dem Wege, den ich jetzt gehen muß, behütet
und mir Brot zur Nahrung
und Kleidung zum Anziehen gibt
und ich glücklich in mein Vaterhaus zurückkehre,
so soll der HERR mein Gott sein.
Und dieser Stein, den ich als Denkstein aufgerichtet habe, soll zu einem Gotteshaus werden, und von allem, was du, Gott, mir geben wirst, will ich dir getreulich den Zehnten entrichten!“

 

Mit Jakobs Traum begegnen sich Gott und Mensch als gleichberechtigte Partner. Nicht nur der Mensch ist abhängig von Gott, auch Gott ist angewiesen auf Menschen, die ihm Vertrauen schenken. Beide profitieren davon. Die Engel veranschaulichen dieses Nehmen und Geben – indem sie die Himmelsleiter hinauf- und hinabsteigen.

 

Nicht zufällig begegnet Gott den Menschen der Bibel vor allem nachts. Denn Nacht und Finsternis unterliegen göttlicher Herrschaft. Sie sind nicht Gottes Gegenspieler, wie in anderen Religionen der Antike üblich. Der biblische Schöpfungsbericht stellt das unmissverständlich klar:

 

 „Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht ... und Gott sah an alles, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut.“

 

Die Nacht gehört nicht nur selbstverständlich zur göttlichen Sphäre, sie ist sogar – wie in Jakobs Traum - besonders geeignet zur Zwiesprache mit Gott. So stellt König Salomo in der Bibel seinem Gebet voran:

 

„Der Herr hat die Sonne an den Himmel gestellt, er aber hat gesagt, er wolle im Dunkel wohnen“ (1. Kön 8, 12).

 

In nächtlicher Dunkelheit erleben Menschen die Widersprüchlichkeiten ihres Lebens besonders intensiv. Die Nacht ist eine Zeit der Ruhe - aber auch Zeit der Schlaflosigkeit, der Liebe, Sexualität und aller anderen menschlichen Aktivitäten, die keine Zuschauer benötigen. In der Nacht ist der Mensch nicht Herr über alle seine Sinne. Weil seine Sehkraft herabgesetzt ist, schärft sich die Intuition. Eine gute Voraussetzung, um nach Gott zu fragen und zu beten.

Ein berühmtes Beispiel dafür ist der 4. Psalm, Martin Luther hat ihn „Abendgebet“ genannt:

 

 „Ich liege und schlafe ganz in Frieden, denn allein Du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne.“ (Psalm 4,9)

 

Beneidenswert scheint, wer sich nachts sofort entspannen und fallen lassen kann. Wer aber genauer liest, spürt die vorangegangenen inneren und äußeren Kämpfe des Beters:

 

Erhöre mich, wenn ich rufe,
Gott meiner Gerechtigkeit,
der du mich tröstest in Angst;
sei mir gnädig und erhöre mein Gebet!
Ihr Herren, wie lange soll meine Ehre geschändet werden?
Wie habt ihr das Eitle so lieb und die Lüge so gern!
Erkennet doch, dass der HERR seine Heiligen wunderbar führt;
der HERR hört, wenn ich ihn anrufe.
Zürnet ihr, so sündiget nicht;
redet in eurem Herzen auf eurem Lager und seid stille.
Opfert, was recht ist,
und hoffet auf den HERRN.
Viele sagen: „Wer wird uns Gutes sehen lassen?“
HERR, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!
Du erfreust mein Herz,
ob jene auch viel Wein und Korn haben.
Ich liege und schlafe ganz mit Frieden;
denn allein du, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne.

 

Es ist kein Zufall, dass der Psalmbeter diesen letzten Vers nicht an den Anfang seines Gebetes gestellt hat. Denn hier spricht ein Mensch, der erst nach und nach zur Ruhe kommt. Der sich anfangs auf seinem Bett hin- und herwälzt, weil die düsteren Gedanken ihn nicht loslassen. Sie rauben ihm den Schlaf, schnüren ihm die Kehle zu. Es wird immer enger um ihn herum. Vielleicht sind die Probleme – bei Licht besehen – ja lösbar, aber dieser Gedanke tröstet nicht in diesem Augenblick. Wie kann der von dunklen Gedanken Verfolgte zur ersehnten Ruhe finden? Der Psalmbeter erinnert sich: Gott hat ihm bereits einmal geholfen, ihn in seiner Angst getröstet. Seine Erinnerung daran blitzt in dem Gebet immer wieder auf. Sie gibt dem Beter die Gewissheit: Auch diesmal wird Gott ihn nicht im Stich lassen. Gerechtigkeit wird sich durchsetzen, die inneren und äußeren Feinde werden eines Tages zum Schweigen gebracht.

Der Beter baut nicht nur auf seine eigene, tröstliche Erfahrung mit Gott. Er weiß: Das Versprechen, das Gott den Menschen gegeben hat, gilt. Daran erinnert er Gott - und sich selbst, indem er den bekanntesten biblischen Segen zitiert:

 

 „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig. Er erhebe sein Angesicht über Dich und gebe Dir Frieden.“ (4. Mose 6, 24).

 

Dieses Versprechen Gottes gilt für alle Zeiten, am Tag und in der Nacht. Der Psalmbeter findet damit Schlaf, Ruhe - und Kraft für den nächsten Morgen. Für alle Entscheidungen, die vor ihm liegen.

 

 

Musik dieser Sendung:
(1) Notturno Op. 54 Nr. 4 - Edvard Grieg, Sibylle Ott-Kohm
(2) Melodie, Op. 47 Nr.3  - Edvard Grieg, Sibylle Ott-Kohm
(3) Schmetterling, Op. 43 Nr. 1 - Edvard Grieg, Sibylle Ott-Kohm
(4) Allegro leggiero fis Moll, Op. 67, Nr.2 - Edvard Grieg, Sibylle Ott-Kohm

05.01.2015
Pfarrerin Marianne Ludwig