Was sie nicht sehn von vornherein, darf sich nicht unterstehn zu sein.

Am Sonntagmorgen
Was sie nicht sehn von vornherein, darf sich nicht unterstehn zu sein.
Zum 200. Todestag von Matthias Claudius
25.01.2015 - 08:35
05.01.2015
Pastorin i.R. Elke Drewes-Schulz

Beliebt und belächelt, naiv und tiefgründig, ein Kind seiner Zeit und doch aus der Zeit gefallen – Matthias Claudius – ein Dichter und Journalist voller Widersprüche. In diesem Monat jährt sich sein Todesdatum zum 200. Mal.

 

Nicht nur Claudius, auch die Zeit, in der er lebt, ist voller Gegensätze: eine Zeit des Aufbruchs und der Veränderung. Vernunftorientierte Fortschrittsgläubigkeit macht dem alten Glauben Konkurrenz; die Philosophie hadert mit der Theologie und umgekehrt. Und die Revolution in Frankreich stellt europaweit alte Herrschaftssysteme in Frage.

Einzig verlässlich und unangefochten ist für Matthias Claudius sein Glaube. Seit frühester Kindheit ist er untrennbar verbunden mit einem liebevollen, beschützenden Elternhaus.

Der Vater – evangelischer Pastor – gibt ihm den Rat, nicht das zu tun, was man tut. Kritisch und selbstbewusst möge er seinen christlichen Glauben leben.

Dem ist Matthias ein Leben lang treu geblieben.

Es gibt bei ihm keinen Bruch zwischen dem Lebensstil seiner Kindheit und dem Leben, das er als Erwachsener führt. Einfach, sorglos und bescheiden lebt er in den Tag hinein.

 

Er konnte in seiner Einfalt eine Stunde lang einen hellen Stern ansehen und sich darüber freuen, (1)

behauptet Claudius einmal von einer für den Leser erfundenen Person. Sicher hat er dabei auch an sich selbst gedacht.

Betrachtet man seinen Lebenslauf, weiß man nicht, ob man seine Sorglosigkeit bewundern oder daran verzweifeln soll. Sein Leben lang hat er es geschafft, dass andere ihn und seine große Familie unterstützt haben. Schon als Student ist er weich in die elterlichen Arme gefallen, nachdem er sein Studium geschmissen hat und er einfach für zwei Jahre pausiert. Andere besorgen Matthias Claudius danach Arbeit als Journalist oder als Hofbeamter. Wieder andere unterstützen ihn und seine Familie regelmäßig finanziell. Allerdings ist es auch für Claudius selbstverständlich, mit dem Wenigen, was er hat, sich seinerseits um Arme und Hilfsbedürftige zu kümmern.

Trotz aller Abhängigkeit hat er sich nicht verbiegen lassen. Er hat vor niemandem einen Kotau gemacht, hat nie um Ruhm und Anerkennung gebuhlt. Einzig sein Verhältnis zur Obrigkeit scheint in einem seltsamen Widerspruch zu seinem freien und unabhängigen Lebensstil zu stehen. Während der französischen Revolution redet er, der doch sonst ganz und gar auf der Seite des einfachen Volkes steht, den Royalisten das Wort. Vielleicht weil er selber sein Leben lang vom Wohlwollen und der finanziellen Unterstützung Adliger profitiert hat.

 

Ich bin ein Bothe und nichts mehr,

Was man mir gibt, das bring ich her. (2)

So stellt Matthias Claudius sich den Lesern seiner Zeitung, des „Wandsbecker Bothen“, vor.

Er sieht es als seinen Auftrag an, das Gefühl von Heimat und Geborgenheit, das ihm sein Glaube gibt, weiterzugeben an verunsicherte, verängstigte Menschen. An alle: an die einfachen Bauern ebenso wie an philosophisch und literarisch Gebildete.

 

Er, der Bote, ist selber Botschaft:

Ich bin vergnügt, im Siegeston  
Verkünd‘ es mein Gedicht,          
Und mancher Mann mit seiner Kron‘       
Und Szepter ist es nicht…

Zufrieden sein, das ist mein Spruch!         
Was hülf‘ mir Geld und Ehr‘?     
Das, was ich hab‘, ist mir genug,               
Wer klug ist, wünscht nicht sehr…

Recht tun und edel sein und gut,              
Ist mehr als Geld und Ehr‘;         
Da hat man immer guten Mut   
Und Freude um sich her,             
Und man ist stolz und mit sich eins,         
Scheut kein Geschöpf und fürchtet keins. (3)

 

Claudius will von jedermann verstanden werden. Deswegen lehnt er es ab, als Dichter bezeichnet zu werden. Der Olymp erscheint ihm nicht erstrebenswert. Er bleibt lieber auf dem Boden, mitten unter den Menschen um ihn herum: Familie, Freunde und Nachbarn.

Er lobt das einfache, schlichte Leben. Dafür ist er seinem Schöpfer dankbar – jeden Tag neu:

Ich danke Gott, und freue mich
Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz habe.

Denn Ehr und Reichtum treibt und bläht,
Hat mancherlei Gefahren,
Und vielen hat’s das Herz verdreht,
Die weiland wacker waren.

Gott gebe mir nur jeden Tag,
So viel ich darf zum Leben.
Er gibt’s dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt er’s mir nicht geben. (4)

 

Mit Begeisterung ist Matthias Claudius Familienvater. Zugunsten der Familie verzichtet er auf Reisen und Studien fernab der Heimat. Und wenn er ausnahmsweise einmal nicht zu Hause ist, zeugt der Briefwechsel mit seiner Frau Rebecca von einer anrührenden Liebe bis ins hohe Alter.

Auch beim zwölften Kind singt Claudius noch sein Loblied auf den ersten Zahn:

 

Viktoria, Viktoria, der kleine weiße Zahn ist da.

 

Aber nicht ohne an die Zukunft des Kindes zu denken:

Gott halt ihn Dir gesund,
und geb‘ Dir Zähne mehr in Deinem kleinen Mund,
und immer was dafür zu beißen. (5)

 

Matthias Claudius präsentiert die kleinen Freuden des Alltags wie Schmuckstücke von unschätzbarem Wert und macht damit jeden Menschen – so arm er auch sein mag – unendlich reich.

Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm und hofft auf ihn. (6)

 

So einfach, so einprägsam lautet sein Credo. Heute noch wird es an Erntedanktagen gern gesungen – als Refrain des Liedes „Wir pflügen und wir streuen“. „Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn.“ Das Leben erscheint hier klar geordnet. Für moderne Ohren klingt das fast zu glatt, zu harmonisch. Ist die Naturseligkeit des Dichters vielleicht nichts als Weltflucht?

Dagegen spricht seine nüchterne Sicht auf den Lebenslauf des Menschen:

 

Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret
Und nimmt des Trugs nicht wahr,
Gelüstet und begehret
Und bringt sein Tränlein dar,
Verachtet und verehret,
Hat Freude und Gefahr,
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts und alles wahr,
Erbauet und zerstöret
Und quält sich immerdar,
Schläft, wachet, wächst und zehret
Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
Wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder. (7)

 

„Er kömmt nimmer wieder!“ Wenn es um den Tod geht, wird Claudius zu einem knallharten Realisten. Nichts ist zu spüren von der mythischen Sprache, mit der er sonst der Natur und selbst dem Alltag des Menschen etwas Göttliches und Heiliges verleiht. Claudius ist fromm, aber nicht frömmelnd. Er findet keine vorschnellen Antworten auf den Sinn des Lebens, auf Leid und Tod. Dazu hat er selbst zu viel Leid erlebt.

 

„Soll Leute geben, heißen starke Geister, die sich in ihrem Leben den Hain nichts anfechten lassen… Bin nicht starker Geist; ‘s läuft mir, die Wahrheit zu sagen, jedesmal kalt über’n Rücken, wenn ich den Tod ansehe“ (8)

gesteht Claudius seinen Lesern. Sein gesamtes Werk hat er dem Tod – er nennt ihn „Freund Hain“ – gewidmet.

Letztlich sind es der Tod und die Frage nach dem Sinn des Lebens, die ihn zum Sehenden, Suchenden und sich Sehnenden werden lassen:

 

Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern' am Himmel an.

Sie gehn da, hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen an der Schnur.

Und funkeln alle weit und breit
Und funkeln rein und schön;
Ich seh’ die große Herrlichkeit
Und kann mich satt nicht sehn.

Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
“Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.“

Ich werf‘ mich auf mein Lager hin,
Und liege lange wach,
Und suche es in meinem Sinn:
Und sehne mich darnach. (9)

 

Sehen, suchen und sich sehnen – für Matthias Claudius sind dies die Grundbedürfnisse menschlicher Existenz.

Während um ihn herum die Welt der Aufklärung auf die Weisheit des Verstandes setzt, hält Claudius ein leidenschaftliches Plädoyer für die Weisheit des Herzens. Das Herz sagt ihm: „Es gibt was Besseres in der Welt als all ihr Schmerz und Lust.“ Damit ist Claudius nicht aus der Zeit gefallen. Vielmehr steht er den Errungenschaften seiner Zeit skeptisch gegenüber. Er gibt zu bedenken.

 

„Der ist nicht weise, der sich dünket, dass er wisse; sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden … ist. Was im Hirn ist, das ist im Hirn; … Existenz ist die erste aller Eigenschaften.“ (10)

 

Schreibt er seinem Sohn Johannes.

Claudius versteht sich nicht als Wissender. Wohlfeile Antworten hat er nicht parat. Für ihn gibt es immer einen Überhang an Fragen, die keine Wissenschaft beantworten kann.

Claudius befürchtet, dass eine reine Vernunftorientierung die Menschen in die Irre führen könnte.

 

Ihn stört die Arroganz, mit der Vertreter des soeben angebrochenen „Zeitalters des Lichts“ alles vorher Gewesene – uralte Weisheiten und Erfahrungen – ins Reich der Finsternis und Unwissenheit verbannen.

 

Sonst ließ man sich Erfahrung leiten,
Prüft‘ und bewährte dran sein Licht;
Jetzt kann man’s ohne sie bestreiten,
und setzt, was sein kann oder nicht.
Was sie nicht sehn von vornherein,
Darf sich nicht unterstehn, zu sein. (11)

 

Vielen seiner Zeitgenossen droht der Glaube abhanden zu kommen. Sie wissen nicht mehr, worauf sie sich noch verlassen können, wenn ihre Erfahrungen nicht mehr zählen.

Statt dankbar zu sein für das Geschenk des Lebens, droht der Mensch überheblich zu werden. Claudius ist besorgt, dass der Mensch aufgrund einer überzogenen Vernunftgläubigkeit nicht mehr empfänglich sein könnte für die einfachen Freuden des Alltags und für das Wunder des Lebens.

Für ihn verweisen Schönheit und Größe der Natur auf einen unfassbaren, gütigen Gott. So mündet Claudius Lobpreis der Natur stets in einen Dank an den, der alles geschaffen hat.

Von Kindheit an tief verwurzelt und unangefochten ist Claudius‘ Glaube an den beschützenden Schöpfergott. Er veranlasst ihn zu seiner zeitkritischen Position.

Matthias Claudius ist kein Gegner der Aufklärung. Er ist ein Befürworter des Glaubens.

„Glaube ist in der gelehrten Welt ein unbekannt Ding“ (12)

stellt er bedauernd fest.

 

Mit seinem Werk setzt Claudius einen wichtigen Kontrapunkt zum Zeitgeist. Gewiss würde seine Einladung, sich nicht ausschließlich vom Verstand leiten zu lassen, heute auf offenere Ohren treffen als zu seinen Lebzeiten. Wir begegnen manchen Errungenschaften der Wissenschaft und Forschung mit Skepsis und sprechen vom Machbarkeitswahn. Claudius dagegen steht mit seiner Wissenschaftskritik noch auf einsamem Posten und muss sich gefallen lassen, nicht ganz ernst genommen oder gar öffentlich verhöhnt zu werden.

Für mich ist Matthias Claudius ein moderner Prophet, ein Mahner und ein Tröster. „Der Philosoph des Mondes und der Sonne“ (13) fordert keine intellektuelle Leistung, um verstanden zu werden, er knüpft an jedermanns Erfahrungen an. Alltagserfahrungen – der Himmel und die Erde, Geborenwerden, Leben, Sterben – das sind seine Themen. Und die lassen ihn heute genauso aktuell erscheinen wie vor 200 Jahren.

 

 

Musik dieser Sendung:
(1) Franz Schubert:  Impromptus D 899, No. 4 As-Dur
(2) Franz Schubert: Impromptus D 935, No. 1 f-moll
(3) Franz Schubert: Täglich zu singen
(4) Franz Schubert: Impromptus D 899, No. 4 As-Dur
 

Literaturangaben:
(1) Annelen Kranefuss, Matthias Claudius. Eine Biographie, Hamburg 2011, S. 81
(2) Ebenda, S. 84
(3) Matthias Claudius, Sämtliche Werke. Hrsg. V. Hannsludwig Geiger, Wiesbaden o.J., S. 48
(4) Ebenda, S. 149
(5) Ebenda, S. 172
(6) EG 508
(7) Sämtliche Werke, S. 251
(8) Ebenda, S. 10
(9) Ebenda, S. 55
(10) Ebenda, S. 507
(11) Ebenda, S. 838
(12) Ebenda, S. 562
(13) So der Titel einer Sendung von Wolfgang Frühwald im Bayerischen Rundfunk vom 19.04.2003

Außer den angeführten Werken liegt den Ausführungen zugrunde: Martin Geck, Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen, Siedler-Verlag 2014

05.01.2015
Pastorin i.R. Elke Drewes-Schulz