Gewissen

Morgenandacht
Gewissen
31.01.2015 - 06:35
23.02.2015
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz

Irgendwo in meinem Bewusstsein schlummert eine Instanz, die sich Gewissen nennt. Gelegentlich wird sie wach und meldet sich bei mir. Meistens bei Entscheidungen, manchmal auch nach fragwürdigen Erziehungsmaßnahmen oder wenn ich zu aufbrausend oder gar rücksichtslos war. Ein gutes Gewissen lässt schnell vergessen, dass es sich überhaupt gemeldet hat, ein schlechtes Gewissen kann einem ganz schön auf die Nerven fallen. Für Christinnen und Christen ist das Gewissen auch die Instanz, in der sich Gott zu Wort melden kann. Berühmt ist Martin Luthers Satz, mit dem er beim Reichstag zu Worms 1521 dem Kaiser widersprochen hat. Meist kennen wir diese Worte in der Fassung „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Tatsächlich hat Luther aber gesagt: "wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; …, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, …, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!"

 

Nach Luther trat die Lehre vom Gewissen als zentraler ethischer Instanz eines Menschen ihren Siegeszug durch Theologie und Philosophie an. Und seit Jahrhunderten wird diskutiert, auf was man sich eigentlich beruft, wenn man sich auf sein Gewissen beruft. Es ist begrifflich wirklich schwer zu fassen. Seit die alten Griechen den Begriff Gewissen erfanden und Paulus ihn in die Theologie einführte, bezeichnet Gewissen das ethische Zentrum einer Person. Gerade weil es beim Gewissen um den Kern der Person geht, kann man es nicht genau definieren. Es entzieht sich einer genauen Fixierung, weil es die letzte Freiheit eines Menschen ausmacht, etwas zu tun oder zu lassen. Wenn das Gewissen sich meldet, dann eher mit Fragezeichen und Zweifeln, als mit einer klaren Vorgabe. Und ich habe dann selbst die Aufgabe, mich zu prüfen und auf die Signale des Gewissens zu reagieren, sie zu interpretieren. Ich habe ein Gewissen, aber es ist ziemlich unanschaulich, ich kann es nicht fassen.

 

Die Lektüre einer Reportage des berühmten Journalisten Ryszard Kapuszinski hat mir unverhofft zu einem Namen für mein Gewissen verholfen. Jetzt habe ich mein Gewissen „Negusi“ getauft. Negusi hieß nämlich Kapuszinskis Chauffeur, der ihn auf vielen gefährlichen Reisen durch Äthiopien begleitete. Negusi war pedantisch darauf bedacht, trotz der staubigen Straßen makellos sauber zu bleiben. Und er konnte nur zwei englische Worte. Die zwei Worte waren „problem“ und „no problem“. Das war die ganze gemeinsame Sprachbasis zwischen Negusi und Kapuszinski, dem Chauffeur und dem Reporter. Gemeinsam haben sie auf wochenlangen Touren die schwierigsten Situationen bewältigt, indem sie genau aufeinander hörten, nicht nur auf die Worte, sondern auch auf Gesten, Tonfall und Körpersprache. Alles ließ sich mit „problem“ und no problem“ meistern. Und deswegen habe ich mein Gewissen „Negusi“ genannt. Denn es meldet sich bei mir auch immer mit diesen beiden Wendungen, entweder mit „no problem“ oder mit „problem“. Meine Aufgabe ist es dann, jeweils das „inwiefern“ heraus zu finden und aufgrund der Problemanzeige richtig zu handeln. Seit es Negusi heißt, kann ich besser auf mein Gewissen es hören, kann manchmal schmunzelnd zu mir sagen: Negusi meldet sich wieder und zwar hartnäckig. Seither ist für mich die so schwer zu umschreibende und doch so wichtige Instanz „Gewissen“ viel greifbarer. Und ich kann mich viel besser mit ihr einigen.

23.02.2015
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz