Im Talar zwischen den Fronten auf dem Majdan

Feiertag
Im Talar zwischen den Fronten auf dem Majdan
Porträt einer Gemeinde in einer außergewöhnlichen Situation
18.01.2015 - 07:05
05.01.2015
OKR Markus Bräuer

Straßenmusiker gehören zum Stadtbild in Kiew. Junge Leute bleiben stehen, singen oder swingen mit.

 

Auch auf dem Majdan gibt es fast zu jeder Tages- oder Nachtzeit Musik. Majdan ist die Kurzform für Majdan Nesaleschnosti und heißt übersetzt Platz der Unabhängigkeit. In seiner Mitte steht das 60 Meter hohe Freiheitsdenkmal. Es wurde 1991 gebaut in Erinnerung an die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Ihm musste das erste Denkmal weichen, das an die Oktoberrevolution 1917 erinnerte. Der Platz könnte auch Platz der Erinnerung heißen, denn auf ihm hat sich auch die Orangene Revolution 2004 ereignet. Und dort stehen Kreuze, die an die Demonstration im vergangenen Jahr erinnern.

 

Nur wenige Minuten zu Fuß vom Majdan entfernt liegt die deutsche evangelisch-lutherische Kirche. Über eine schmale Seitenstraße steil bergauf gelangt man zur St. Katharina-Kirche. Ein gelbes Gebäude, mit einem Rundbogen-Portal. Über den Fenstern sind die Dachtraufen mit weißem Kalk verziert, als würden im ganzen Jahr die Eiszapfen herunter hängen. Ralf Haska ist der von der Evangelischen Kirche in Deutschland entsandte Pfarrer. Seit fünf Jahren leitet er die deutsche Gemeinde am Dnjepr. Mit seiner Frau Charis, seinen beiden Söhnen und der Tochter ist er aus Brandenburg nach Kiew gezogen.

 

Ralf Haska: „Viele haben ihren Glauben tatsächlich erst nach der Perestroika, nach der Unabhängigkeit der Ukraine hier wieder entdeckt und haben dann Anfang der Neunzigerjahre auch die Gemeinde gegründet. Da ist aber wenig aus den Kinderzeiten zurückgeblieben bei meinen älteren Gemeindegliedern hier, sodass alles erst wieder erarbeitet werden muss. Deswegen sind viele, auch ältere Gemeindemitglieder, sehr interessiert an Bibelkreisen oder an theologischen Gesprächskreisen, irgendwelche Kreise, wo sie über biblische Stellen, die Bibel, über theologische Überzeugungen und so weiter lernen können. Der Konfirmandenunterricht wird stark nachgefragt auch von denen, die schon längst konfirmiert sind und schon lange in der Gemeinde sind, die aber sich gern wieder reinsetzen und noch einmal mithören, wie es jemand anders macht und sie etwas Neues lernen können.“

 

 

Die Gemeinde von Ralf Haska ist klein: 300 Gemeindeglieder. Russlanddeutsche, junge Ukrainer und andere Europäer, die für westeuropäische Firmen in der Ukraine arbeiten. Die Gemeinde finanziert sich aus den freiwilligen Mitgliedsbeiträgen. Aber diese allein würden nicht ausreichen. Ralf Haska ist sehr froh, dass kirchliche Partner in Bayern seit langem die diakonische Arbeit als auch Seelsorge und Unterricht mitfinanzieren. Sonst wäre es nicht möglich, Kantorin, Küster und Wachdienst wenigstens stundenweise anzustellen. Ralf Haska ist zudem für zwei Außenstellen der Gemeinde zuständig, 85 Kilometer und 270 Kilometer weit von Kiew entfernt.

 

Ralf Haska: „270 Kilometer zu fahren, das sind vier, fünf Stunden, die ich auf der Straße bin. Die Straßen sind nicht so wie in Deutschland. Man muss hier deutlich mehr Zeit einrechnen, um die 270 Kilometer im Auto zu bewältigen. Man kommt an. Wir haben den Gottesdienst. Und hinterher ist immer eine große Gemeinderunde, wo Gespräch ist, wo wir über die Probleme in der Gemeinde reden, miteinander essen, miteinander trinken. Manchmal danach mach ich noch Hausbesuche und fahre zu einzelnen Leuten nach Haus.“

 

 

Nach der 1991 errungenen Unabhängigkeit von der Sowjetunion können die Christen ihren Glauben wieder wesentlich freier leben. Die lutherische St. Katharina-Kirche nahe dem großen Majdanplatz mit der bekannten Unabhängigkeitssäule stand auch mittendrin in den Protesten und Auseinandersetzungen vor einem Jahr. Heute erinnern auf dem Platz mannsgroße Fototafeln und Gedenksteine an die gewaltsamen Auseinandersetzungen und die Toten. Die Demonstrationen auf dem Majdan haben auch die lutherische Gemeinde verändert.

 

Ralf Haska: „Wir haben diese Zeit als eine sehr herausfordernde Zeit, psychisch wie physisch, erlebt. Für uns als Gemeinde, für viele Gemeindeglieder, die hier versucht haben, zu demonstrieren, auch den Sicherheitskräften versucht haben, zu helfen, ihnen beizustehen, etwas Gutes zu tun mit Tee, heißen Getränken. All das hat uns schwer herausgefordert. Und das hat uns viel Kraft gekostet.“

 

Als der damalige Präsident Janukowitsch im November 2013 sich vom geplanten Assoziierungsabkommen mit der EU distanzierte, gingen junge Leute und Studenten zu Tausenden auf die Straße, um dagegen zu protestieren. Die Regierung reagierte mit Gewalt und Polizei.

 

Ralf Haska: „Dann gab es einen Punkt, der die Sache kippen ließ. Und das war der 30. November 2013. Da gab es dann den Punkt, dass die Regierung auf die Proteste der jungen Leute nicht angemessen reagierte, sondern mit Gewalt, junge Studenten in einer Nacht zusammenschlagen ließ, wo viele Schwerverletzte zu beklagen waren. Und an dem Punkt habe ich gemerkt, dass da der Umschwung stattfand. Man hat danach nicht mehr bloß gefordert, dass das Assoziierungsabkommen unterschrieben werden sollte, sondern man hat eine vollständige Revolution gefordert, also ein Absetzen des Präsidenten. Man wollte mit dem ganzen korrupten System nichts mehr zu tun haben.“

 

 

Um gegen den Präsidenten und dessen Regierung zu protestieren und den Rücktritt zu fordern, errichteten die Demonstranten ein Zeltlager. So entstand auf dem Majdan eine gut funktionierende Gemeinschaft, mit Suppenküchen und medizinischer Versorgung.

 

Einige hundert Leute lebten dauerhaft auf dem Majdan. Es gab große Küchen, die aber nicht ausreichten, alle zu versorgen. Deshalb haben verschiedene Organisationen und Kirchen Essen auf den Majdan gebracht. Es wurden Gottesdienste auf einer großen Bühne gefeiert, rund um die Uhr. Ein Kulturprogramm, bei dem Gruppen und Chöre auftraten, gehörte dazu. Professoren, die Vorlesungen vor Tausenden hielten, ebenso. Im Dezember 2013 dann eskalierte die Lage.

 

Ralf Haska: „Es gab den ersten Versuch, den Majdan zu räumen am 11. Dezember. Die Leute wehrten sich mit Steinwürfen gegen die angreifenden Berkutleute. So hat man die Pflastersteine herausgebrochen aus den Gehwegen. Die Betonsteine hat man rausgebrochen, zerkleinert. Da gibt es bewegende Fotos, wo Leute selbst mit Rollstühlen helfen, diese Steine zu zerkleinern und auf dem Schoß die Steine sozusagen an die Front karren.“

 

Zwei Kirchen stehen gleich weit entfernt vom Majdan: die lutherische St. Katharina-Kirche von Pfarrer Haska und das Michailowski-Kloster des Kiewer Patriachats. Das Kloster läutete die Glocken, bot den fliehenden jungen Leuten Schutz und ließ die Sicherheitskräfte nicht hinein.

 

Ralf Haska: „Dann gab es bei St. Katharina, wir, unsere Kirche, die genau so nah dran ist, wie das Michailowski-Kloster am ganzen Geschehen. Und dadurch, dass der Präsidentenpalast genau gegenüber liegt, sogar noch näher dran war. So kamen die Leute von dort, um Schutz, Wärme usw. zu suchen. Wir haben da geholfen, wo wir es konnten. In dem Entsetzen über die Reaktion der Regierung. Dann hat sich nicht nur die lutherische Kirche, unsere Kirche, sondern auch die orthodoxe Kirche, das Kiewer Patriarchat, vor allem auch die griechisch-katholische Kirche mit ihrem Patriarchen Schewtschuk (Großerzbischof). Sie haben sich sofort solidarisiert mit der Protestbewegung mit Leuten, die aufstehen für die eigene Freiheit für das eigene Recht, ihr Leben in Demokratie und Freiheit leben zu können. Man hat sich solidarisiert. Man hat Gottesdienste auf dem Majdan gefeiert und hat Gebetszelte aufgestellt. Und die sind angenommen worden. Es gibt auch da bewegende Fotos wie der ganze Majdan auf den Knien steht und das „Vater unser“ betet.“

 

 

Pfarrer Ralf Haska stellte sich zwischen die Fronten, als sie Lage zu eskalieren drohte. Ein dpa-Foto zeigt ihn im Talar, wie er im Schneetreiben zwischen den Protestierenden und den Polizisten steht, die mit Helmen, schusssicheren Westen und Schlagstöcken ausgerüstet sind. Der Pfarrer breitet die Arme aus, das Gesicht den Demonstranten zugewandt.

 

Ralf Haska: „Wir hatten ein großes Protestlager genau vor der Kirche für ein paar Tage. Das ist in der ersten Gewaltwelle aufgelöst worden am 9. Dezember. Die Sicherheitskräfte haben dieses Lager umstellt. Es kam(en) von unten, vom Majdan, Unterstützer für das Protestlager. Es kam hier vor der Kirche am Abend zur Konfrontation, wo die zwei Fronten sich Auge im Auge gegenüberstanden. Von daher kommt dieses Foto. Ich habe das gesehen und konnte nur noch in Panik reagieren, weil für mich klar war: „Wenn es da zu Auseinandersetzungen kommt, dann gibt es zumindest Schwerverletzte, weil beide Seiten mit Schlagstöcken und riesigen Knüppeln bewaffnet waren, die aufeinander eingedroschen hätten.“ Da war klar, da musste man Luft schaffen. Da musste man rein und die Fronten auseinanderziehen. Das ist die Stelle, wo ich dazwischen ging. Und Gott sei Dank waren zwei Kamerateams da, die ich mitziehen konnte und wir Luft schaffen konnten zwischen den Reihen, die sich dicht gegenüberstanden.“

 

 

Ralf Haska hat die friedliche Revolution in der DDR miterlebt. Der Ruf „Keine Gewalt“ und die Friedensgebete mit Kerzen waren das große Zeichen in Ostberlin, in Brandenburg oder in Leipzig.

 

Ralf Haska: „Es sind völlig andere Revolutionen gewesen. Die Revolution der Würde des ukrainischen Volkes wie auch die friedliche Revolution in Ostdeutschland sind unterschiedlich. (...)

 

Aber die Leute sind genau für die Werte auf den Majdan gegangen, für die wir damals in Ostdeutschland auch gestanden haben: für eine demokratische Entwicklung ihres Landes, für eine Regierung, die sie frei wählen können und die nicht durch Wahlmanipulationen an die Macht kommt, für ein selbstbestimmtes Leben, für die Würde, auch mein Leben erhalten zu können, für ein vernünftiges Gesundheitssystem, dass der Staat sich an bestimmten Stellen um das Leben und das Wohlergehen seines Volkes kümmert. Es ist hier nicht so gewesen. Hier hat man tatsächlich um das Überleben kämpfen müssen. Nur wer Geld hatte, konnte sich Operationen leisten oder konnte sich Gerichtsurteile leisten. Korruption an allen Ecken und Enden.“

 

 

Der Majdan sieht heute wieder aus wie vor dem Oktober 2013. Menschen schlendern hinüber, Musiker spielen. Aber hinzugekommen sind großformatige Fotos von den Auseinandersetzungen auf dem Majdan und als neuestes auch von den Kriegshandlungen im Osten der Ukraine. Und dort stehen jetzt auch Gedenktafeln für die weit über hundert Menschen, die während der Auseinandersetzungen ums Leben kamen. Im Februar 2014 haben Scharfschützen über einhundert Menschen erschossen, die ihnen ungeschützt entgegengerannt sind – viele hatten nur Bauhelme auf dem Kopf.

 

Ralf Haska: „Dass das natürlich nicht hilft gegen Kugeln, das ist ganz klar, aber etwas anderes hatten sie nicht. Die Auseinandersetzungen beliefen sich auch hauptsächlich mit Steinen. Da hat ein Bauhelm vielleicht auch noch geholfen. Dann gab es Künstler, die diese Bauhelme auch bemalt haben, verschönt haben mit ukrainischen Motiven. Damit haben sie ein Stück Nationalstolz hineingebracht. „Wir als Ukrainer, wie stehen auf. Wir stehen auf dem Majdan. Nicht nur einzelne Leute, sondern das Volk steht hier.“ Und deswegen sind diese Bauhelme so eine wichtige Sache. In Deutschland gibt es eine Wanderausstellung von diesen Bauhelmen. (…) Die Institutskastraße ist jetzt die Straße der Denkmäler. Sie soll ja umbenannt werden in die Straße der „Himmlischen Hundertschaft“. Das wird sicher auch passieren. Und sie wird, glaube ich, nicht wieder freigegeben für den normalen Straßenverkehr.“

 

 

In der St. Katharina-Kirche ist auch heute noch immer nicht der normale Alltag wieder eingekehrt. Der Krieg im Osten der Ukraine bedrückt die Menschen. Die Ärzte und Freiwilligen, die in den Tagen des Majdan im Lazarett der Kirche Kranke und Verwundete versorgten, wollen den Soldaten und Zivilisten weiter helfen, die im Osten des Landes in die Kampfhandlungen verwickelt sind. Dort fehlt es an allem. So werden Medikamente, Geld und warme Kleidung gesammelt, um diese in den Osten des Landes zu bringen.

 

Ralf Haska: „Das passiert hier in unseren Räumen der Kirchengemeinde. Und hier versammeln sich jeden Tag Freiwillige, die kleine Apotheken mit Medikamenten packen. (...) Wir kriegen auch Bestellungen aus Krankenhäusern. In Nowoaida, da gibt es ein Krankenhaus, wo der Arzt uns sagt, wir brauchen das und das. Wir versuchen das vor Ort zu kaufen und dort hinzukriegen. Es wird auch Kleidung gesammelt für ein Kinderheim. Auch dort gehen die Medikamente hin. Wir versuchen einfach an den Stellen, wo es möglich ist, zu helfen. Das sind verschiedene Stellen. Und vor allen Dingen, es ist eine seriöse Sache, weil wir die Kontakte direkt haben von Person zu Person, keine Mittelsmänner, wo irgendwelche Dinge abfließen könnten. Wir wissen, dass das System der Korruption bei weitem noch nicht überwunden ist und dass viel verloren gehen kann. Hier haben wir ein persönliches System von Kontakten, die manchmal noch vom Majdan herrühren. Verwundete, Verletzte, die hier bei uns gelegen haben, die jetzt im Osten sind, wo die direkten Kontakte da sind. Wir wissen, dass die Hilfe tatsächlich dort ankommt, wo sie gebraucht wird (...)“

 

 

Valentina Varava ist eine der Freiwilligen die fast täglich in die St. Katharina-Kirche kommen. Der blonden, fünfzigjährigen Ärztin ist es ein großes Anliegen hier tätig zu werden.

 

„Wir arbeiten hier fast jeden Tag. Die meisten kommen nach der Arbeit hierher und arbeiten als Freiwillige. Wir nehmen die Spenden und fahren fast jede Woche in die Ostukraine. Wir unterstützen auch Soldaten mit Medikamenten und warmer Kleidung.“

 

 

In die Beutel kommen vor allem blutstillende Medikamente und Schmerzmittel. Am meisten werden warme Schuhe, Thermokleidung, Anoraks und Mützen gebraucht / benötigt. Neben Valentina Varava steht die vierzigjährige Gynäkologin Alexandra Sebak, auch sie arbeitet freiwillig mit.

 

Wir haben jetzt die Rolle von mehreren Ministerien: Kulturministerium, weil wir mit Kindern arbeiten, Sicherheitsministerium, weil wir die Menschen unterstützen und Militärministerium. Wir haben eine wichtige Rolle für unsere Menschen im Osten.“

 

 

Und welche Hoffnung, welche Vision haben die freiwilligen Helferinnen dabei für ihr Land?

 

Wir wollen ein eigenständiges Land sein und bleiben. Und wir hoffen, dass wir am Ende ein europäisches Land werden. Und wir hoffen, dass wir uns nicht nur Russland erwehren können, sondern auch die Korruption, die in unserem Land herrscht, besiegen.“

 

 

Wer Interesse hat, kann die deutsche evangelisch-lutherische Kirchengemeinde in Kiew an diesem Sonntag noch etwas näher kennenlernen. Das ZDF überträgt heute um 9.30 Uhr einen evangelischen Gottesdienst aus der St. Katharina-Kirche in Kiew unter dem Titel „An der Seite der Menschen“. Wie gut, in dieser schwierigen Situation in der Ukraine Gottesdienst zu feiern: Belastendes auszusprechen, es vor Gott zu bringen, um Hilfe zu bitten und Segen zu empfangen. Und wie gut, dann wieder mit neuen Kräften ein Segen zu sein: zu helfen und sich für den Frieden einzusetzen – an der Seite der Menschen.

 

 

Musik dieser Sendung:               
(1) Der Herr ist mein getreuer Hirt, ChoralConcert – Improvisation. Meditation, Karl Scharnweber. Thomas Klemm. Wolfgang Schmiedt      
(2) Chor St. Katharina, Kiew      
(3) Die Nacht ist kommen, ChoralConcert – Improvisation. Meditation, Karl Scharnweber. Thomas Klemm. Wolfgang Schmiedt
(4) Nun bitten wir den Heiligen Geist, ChoralConcert – Improvisation. Meditation, Karl Scharnweber. Thomas Klemm. Wolfgang Schmiedt

05.01.2015
OKR Markus Bräuer