Gedankenreise zu einem anderen Ufer

Evangelischer Rundfunkgottesdienst

© Friedensgemeinde Heidelberg

Gedankenreise zu einem anderen Ufer
Rundfunkgottesdienst aus der Friedenskirche Heidelberg-Handschuhsheim
12.07.2020 - 10:05
20.05.2020
Martina Reister-Ulrichs
Über die Sendung

Gottesdienstübertragung am 12. Juli 2020, 10.05 bis 11 Uhr im Deutschlandfunk
aus der Friedenskirche in Heidelberg-Handschuhsheim

 

Das Reisen ist eingeschränkt im Sommer 2020. Viele machen Urlaub in Deutschland. Die Predigt von Pfarrerrin Martina Reister-Ulrichs nimmt mit auf eine Reise in ein anderes Land. Am Ufer des Sees Genezareth mischt sie sich unter die Menschen, die Jesus sehen und hören wollen. „Wir“ beobachten eine Alltagsszene.
Und wie Jesus aus namenlosen Fischern Menschen mit einer Mission macht.

Die Musik im Gottesdienst wird klein, aber fein; klein in der Besetzung:
Die Gemeindelieder singt eine Frauengruppe. Zwei Tenöre singen solistisch zwei Stücke von Heinrich Schütz. Dazu spielt ein Bläserquartett unter Leitung von Harald Schneider. Die Orgel spielt Bezirkskantor Michael Braatz-Tempel.

Die Friedenskirche in Heidelberg- Handschuhsheim ist im Jugendstil erbaut und
innen völlig neu und innovativ renoviert. Eine Stufenanlage setzt die „baulichen“ liturgischen Elemente Altar, Taufstein, Kanzel miteinander in Beziehung und steigt zur Orgel hinauf. Sakramente, Wort und Musik sind so auf glückliche Weise verbunden.

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen

Der Sommer summt an diesem Morgen am See. Die Sonne strahlt schon kräftig von einem wolkenlosen Himmel. Eine angenehm leichte Brise kräuselt die Oberfläche und sprüht glitzernde Funken an Land. Ein paar Fischerboote liegen vor Anker, und die Fischer, die wohl gerade erst von einer arbeitsreichen Nacht zurückgekommen sind, werkeln an ihren Netzen. Nicht weit entfernt von dieser Postkartenidylle brummt der Tourismus, denn trotz der frühen Stunde ist die Uferpromenade voller Menschen. Kein Mensch hält irgendwelche Abstandsregeln ein oder trägt einen Mund-Nasen-Schutz. Bilder aus einer anderen Welt. Das muss ein längst vergangener Sommer sein.

 

Und schon betritt Jesus die Bühne. Er ist der Prediger in diesem frühmorgendli­chen Freiluftgottesdienst. Von wirkungsvoller Inszenierung versteht er etwas, lehrt nicht nur in ihren Synagogen, wie es zuvor berichtet wird, auch heilige Berge und Uferpromenaden bespielt er mit Leichtigkeit; zum Pre­digen in dieser lieben Sommerzeit bieten sie sich damals wie heute an. Viel Volk ist ihm auf den Fersen, folgt seiner Spur, drängt sich um ihn, lungert an den Landungsplätzen, um das Wort Got­tes zu hören. Sehen und hören kann man freilich nicht viel, wenn man nicht gerade einen Platz in den ersten Reihen erwischt hat; vielleicht wäre es doch gut gewesen, mit vorheriger Anmeldung zu arbeiten, Namen und Adressen zu erfassen oder dieselbe Veranstaltung noch einmal abends anzubieten. Abends, wenn bei Kapernaum die rote Sonne im See versinkt und über den Hügeln Galiläas die bleiche Sichel des Mondes hängt, fahr‘n die Fischer mit ihren Booten auf den See hinaus und sie werfen in weitem Bogen die Netzte aus. Noch fischen sie Fische. Und ihr Alltag sieht in ihrer Wirklichkeit ganz anders aus als er in den Schlagermelodien klingt. Vom Erfolg oder Misserfolg ihrer Arbeit wird für die Massen am Ufer nichts sichtbar. Während die nur einen naturnahen Arbeitsplatz sehen, haben die Fischer mit einer ertraglosen Nacht, mit überfischten Gewässern und zunehmendem Konkurrenzdruck zu kämpfen. Während die einen sich gerne günstiges Fleisch auf den Grill legen, arbeiten Werkvertragsarbeiter in Schlachthöfen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Während die einen in den letzten Monaten von Livemusik und Bühnenkonzerten mit einem Klick auf digitale Beschallung umgestellt haben, wird Künstlern und Musikerinnen die Existenzgrundlage entzogen. Was gestern noch den Lebensunterhalt sicherte, ist vielen Menschen in ganz unterschiedlichen Berufen quasi über Nacht entzogen worden. Wer eine Nacht vergeblich gearbeitet hat, und je nach Branche vielleicht auch ein paar Wochen sein Geschäft schließen musste, mag sich gerade noch so über Wasser halten können, aber die Angst um einen nach wie vor verlässlichen Lebensunterhalt ist plötzlich groß.

 

Jesus verlässt die Menschenmenge, die sich um ihn drängt und geht auf diese Menschen zu.

 

 Er geht hin und bittet einen der Fischer um einen Gefallen. Dessen Boot kommt ihm gerade recht. Und die Fähigkeiten seines Besitzers, der nicht nur fischen, sondern auch zupacken und sich durchsetzen kann. So steigt er einfach ein und bittet den Mann, ein wenig vom Land wegzufahren. Es wird Simon eine Ehre gewesen sein, dass er gebraucht wird, so schnell kommt man eines unschuldigen Sonntagmorgens zu ei­nem Ehrenamt, dabei wollte er doch gerade Feierabend ma­chen, oder besser Feiermorgen, nun wird sein Boot zur schwimmenden Kanzel. Noch bevor das Wort vom Menschenfischer fällt, macht Jesus vor, wie das geht. Wie man Menschen gewinnt: Ich begegne dir auf deinem Terrain, in deinem Le­bensumfeld, und ich frage dich: Darf ich einsteigen in dein Boot? Darf ich einsteigen in dein Lebensschifflein und eine Weile mit dir fahren? Vielleicht ruderst du uns ein Stück hinaus, damit wir ein wenig Abstand von allem gewinnen. Deine Kompetenzen und Fertigkeiten sind gefragt. Ja, ich brauche dich jetzt. Es wäre mir und Dir eine Ehre. Und da kann es plötzlich ge­schehen, ehe du dich versiehst, dass Jesus mit dir im Boot sitzt und dass in deinem Leben, mitten in deinem Alltag, das Evangelium laut wird.

 

So wird der Fischer Simon vom Rand ins Zentrum geholt und vom Zuschauer zum Beteiligten gemacht. So werden in dieser Geschichte Men­schen gewonnen. Und so ließe sich Menschenfischerei nach biblischem Vorbild vielleicht auch heute betreiben: Ich entdecke als Pfarrerin plötzlich Menschen, die bisher nicht im Blick waren, mit ihren Begabungen und Talenten, mit ihren Berufen und Berufungen, mit ihren Booten und Netzwerken, und gehe hin und steige ein. Und wenn das anstrengend klingt, dann ziehe ich die Leichtigkeit des eingangs zitierten Gedichts heran und ändere es nur ein wenig ab: „In Sommernächten aufzubleiben und bei Brot und Wein mit dem, der grad am Tische sitzt, zu sprechen, und absichtslos zu sein …“

 

Wenn so ein Einstieg erst gemacht ist, dann kann es vielleicht auch weiter und in die Tiefe gehen. Denn nun heißt es in unserer Geschichte: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus.“ Für den Neueinsteiger ging es erst nur ein kleines Stück weg vom Land, das be­kannte Ufer immer noch in Sicht. Aber jetzt will Jesus mit Simon den niederschwelligen Bereich verlassen und dahin fahren, wo es tief ist. In die Mitte des Sees, wo man nicht mehr so leicht aussteigen und mit nassen Füßen ans Ufer zu­rück laufen kann. Dahin, wo auch Gespräche und Beziehungen an Tiefe gewinnen.

 

Und noch ein Lehrstück steckt in dieser Aufforderung Jesu, die so mühelos vom Singular in den Plural wechselt: Wo erst mal ei­ner gewonnen ist, da werden auch andere leicht mit gezogen. Eben hat er noch zu Simon gesagt: „Fahre hinaus, wo es tief ist“, aber weiter heißt es: „und werft eure Netze zum Fang aus.“ Da sind ganz beiläufig noch andere angesprochen und mit gemeint; da werden auch die anderen Fischer einfach mit ins Boot geholt. Und schon sind wir wieder ein paar mehr auf dem Schiff, das sich Gemeinde nennt.

 

Aber was für eine Zumutung! Fischen sollen sie am helllich­ten Tag! Der Prediger entblößt sich als Laie in Sachen Fischfang. Tolle Predigten halten und die Massen begeistern mag er ja können, von der Fischerei hat er nicht die geringste Ahnung. Aber Simon lässt sich auf das Wagnis ein. Zwar formuliert er seine Bedenken: „Meister, wir haben die ganze Nacht gear­beitet und nichts gefangen, aber auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen.“

Da hat ein Mensch Vertrauen gefasst. Da macht einer etwas, was er noch nie gemacht hat, da lässt einer alle Strategien, die ihn bisher durchs Leben getragen haben, fahren, da springt einer, auch wenn er im Boot bleibt, buchstäblich ins kalte Wasser.

Ich gehöre nicht zu den Mutigen. In der Regel wäge ich das Für und Wider einer Entscheidung sehr genau ab. Aber es gibt Menschen, auf deren Wort hin ich ein Wagnis leichter eingehen kann. Und wie schön, wenn es sich dann tatsächlich auch als vertrauenswürdig erweist. Aber immer wieder stehe ich vor der Wahl, entweder auf meine Erfahrungen zu hören, die mir einflüstern: „Ich habe schon so viele Jahre lang gearbeitet und so etwas hat noch nie funktioniert!“ Oder ob ich doch einmal eine andere Haltung ausprobiere: „Aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. Hinausfahren. Die ausgetretenen Pfade verlassen.“

 

So wie in der Geschichte, in der dann ein Wunder geschieht:

Eine wahre Fischflut geht ihnen ins Netz, ein Jahrhundertfang. Und während in ihren Netzen die Fische zappeln, zappeln in meinem Kopf die Gedanken. Wie machen die das bloß?

Und wie kriegt die Kirche das auch hin? Wie kommen diejenigen, die mit großem Engagement in kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen arbeiten, mit Menschen in Kontakt, die bisher durch die Maschen so vieler Netzwerke gefallen sind? Und ich suche noch einmal den Predigttext ab, ob Jesus zwischen den Zeilen einen einfachen Trick oder eine geniale Idee verrät. Und bleibe immer wieder hängen an diesem einen Satz: „Fahre hinaus. Fahrt hin­aus.“ Mehr oder anderes steht da nicht. Hinaus gehen an ungewöhnliche Orte zu ungewöhnlichen Zeiten.

 

Vielleicht hat die Geschichte aber auch noch eine andere Botschaft. Sie hängt damit zusammen, wo die anderen geblieben sind. Die sich vor kurzem noch gedrängt haben, um Jesus zuzuhören. Stehen sie noch am Ufer, um zu warten, wie die Geschichte mit den Fischern ausgeht? Oder sind sie längst weitergezogen? Was hat Jesus ihnen gesagt, als er vom Boot aus zu ihnen gesprochen hat? Wie hat er ihr Leben verändert?

Ich wünschte mir, dass auch sie Vertrauen gefasst haben. Vertrauen in das Leben, in das sie an diesem Morgen zurückgekehrt sind, ohne gleich alles stehen und liegen zu lassen. Und ich wünsche mir, dass ich sie ziehen lassen kann im Vertrauen auf den, der sein Wort auch an sie gerichtet hat.

 

 

Zwei erstaunliche Nachwirkungen hat die Geschichte vom großen Fischfang. Simon könnte jetzt stolz auf sich sein. Er hat alles richtig gemacht: Sein Boot ausgeliehen, Beden­ken in den Wind geschlagen, auf den richtigen Mann ge­setzt. Aber das außer­gewöhnliche Erlebnis führt ihn zu einem tiefen Erschrecken und zu der Erkenntnis: „Ich bin ein sündiger Mensch.“ Der Erfolg verdreht ihm nicht den Kopf, sondern macht ihn demütig.

 

Denn eigentlich müsste doch noch erzählt werden, wie er und die anderen Fischer ihren Fang vermarkten. Eigentlich erwarte ich bei ihrer Rückkehr am Ufer schon die Marketingexperten mit ihren Strategien. Daraus ließe sich doch etwas machen, ein Gewinn, ein Unternehmen, eine Titelgeschichte fürs Sommerloch. Stattdessen heißt es: „Und sie brachten die Boote an Land und verließen alles und folgten ihm nach.“

 

Und so verlässt Jesus mit seinen frisch berufenen Menschen­fischern die Szene. Der See liegt gleißend in der Mittagssonne. Die Hitze flirrt. Zurück bleiben zwei leere Boote am Ufer eines Sees. Sie liegen da wie eine Verheißung. Als warteten sie darauf, dass wieder jemand einsteigt. Ein Mensch, der Vertrauen gefasst haben in den, der vielleicht auch heut vorbeikommt. Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

20.05.2020
Martina Reister-Ulrichs