Leben aus der Fülle

Gottesdienst aus der Kreuzkirche Heidelberg-Wieblingen
Leben aus der Fülle
Gottesdienst aus der Kreuzkirche Heidelberg-Wieblingen
20.01.2019 - 10:05
13.12.2018
Verena Schlarb
Über die Sendung

„Von Fülle umgeben“ - Ist das eine realistische Beschreibung des Lebens?
Einerseits ja, die Erde ist ein wunderbar reiches „kleines Raumschiff“. Andererseits: Mangel ist allerorten. Gefühlt und echt. So viele Wünsche nach „mehr“ gab es vielleicht nie. „Von Fülle umgeben“: beschreibt der Satz also eher eine Utopie – anzustreben, selbst wenn sie nicht erreichbar wäre? Oder ist der Satz ein „Fake“ von Menschen, die schon auf der Sonnenseite des Lebens stehen und sich daran gewöhnt haben, Mangel zu übersehen. Solange es nicht der eigene ist?

„Leben können aus der Fülle – volle Genüge haben“:
Die biblischen Erfahrungen und Texte (Joh 2; Hochzeit zu Kana; Röm 12, 9ff), die am 20. Januar im Gottesdienst aufgerufen werden, machen stark: Es gibt Leben in Fülle und es ist möglich. Die Geschichte der Hochzeit zu Kana wird nicht „solo“ vorgetragen, sondern als szenische Lesung, die das aufregende Geschehen zwischen den Personen im „Wunder“ gut hörbar macht. Es wirken mit: Adelheid Ewald, Cosima Schilling, Kai Neureuther und Michael Seifert.

 

Pfarrerin Dr. Verena Schlarb und die Mitarbeiter*innen der Kreuzgemeinde stellen sich in Gebeten, Lesungen und Predigt diesen Spannungen und fragen: Wie können Christ*innen verantwortlich „aus der Fülle“ leben. Und wie mit dem Mangel ? Z.B. Wie begegnet eine Gemeinde Armen, Geflüchteten, und Pflegebedürftigen?

 

Aus einer großen Fülle kann der Gottesdienst musikalisch schöpfen:
Musik und musikalische Ausbildung haben einen ganz besonderen Stellenwert in der Kreuzgemeinde. Sie profitiert von der engen Kooperation mit dem evangelischen Elisabeth-von-Thadden-Gymnasium, das direkt neben der Kreuzkirche liegt:

Der „Crossover –Chor“ aus Gemeindegliedern und Lehrer*innen unter der Leitung von Johannes Balbach gestaltet den Gottesdienst ebenso mit wie der Posaunenchor, der 2019 das 111. Jährige Jubiläum seines Bestehens feiert. Er musiziert unter der Leitung von Csaba Asboth. Und dazu kommen die jungen Stimmen der Kinderchöre unter der Leitung von Kathrin Kirn-Rodegast.

 

Die neogotische Kreuzkirche – vor kurzem renoviert – ist Mittelpunkt des „alten“ Dorfkerns von Wieblingen. Und trotz des großen baulichen Wachstums der Kommune ist sie das auch immer noch – symbolisch jedenfalls.

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen
 

Gnade sei mit euch und Friede von dem, aus dem alles Leben kommt.

 

Liebe Gemeinde, liebe Zuhörerin, lieber Zuhörer,

manches geht in der Fülle und im Geräuschpegel meines Lebens einfach unter – auch, was mir wichtig ist.

Ich muss an einen Abend während meiner Zeit in London denken. Phil Collins wollen wir hören im Hyde Park. Zusammen mit ein paar Kollegen mache ich mich auf den Weg. Noch unterwegs hören wir die Vorband. Wir freuen uns auf das Konzert!

 

Mit vielen anderen kommen wir aufs Gelände. Wir warten gespannt. Dann der erste Song – und ich bin enttäuscht. Von unserem Platz aus hören wir schlecht! Was bei uns ankommt, klingt wie aus großer Ferne. Die schlechte Akustik beim Open Air und die teuren Karten – das passt nicht zusammen.

 

Liebe Gemeinde,

mitten in der Stadt – mit ihren Menschen und mit ihrem Verkehr, mit ihren Flugzeugen und ihrem Lärmschutz, da sind die Bedingungen für ein OpenAir-Konzert schwierig. Schmerzhaft erleben wir an dem Abend, was auch sonst für Konzerte unter freiem Himmel gilt: Der Klang der Musik kommt viel schwerer bei den Zuhörerinnen an.

Und das, obwohl alle ihr Bestes geben: Die Musiker, die Techniker, alle die planen, vorbereiten und aufbauen. Aber der Wind trägt einiges davon an Präzision und Klang.

Dass das, was ihm wichtig ist, im Trubel der Stadt leicht verhallt, diese Erfahrung macht auch der Apostel Paulus. In der Metropole Rom will er vor 2000 Jahren seine frohe Botschaft, seine Musik zum Klingen bringen. Die basiert auf einem Dreiklang. Gott in drei Klängen. Ich male sie mir aus.

 

Den ersten Klang höre ich tief und kraftvoll. Aus ihm entspringt jeder Ton und sogar die Stille. Den Schöpfer nennen wir ihn. Er ist wie ein tiefer, beständiger Grundton. Die ganze Harmonie baut auf ihm auf. Die anderen Töne verhalten sich zu ihm, manchmal spannungsvoll, schräg. Der Grundton klingt in jeder Pause, in jeder Stille noch mit. Er ist immer da, in jeder Musik.

 

Der zweite Klang erzählt vom Leben der Menschen, wie Jesus es teilte. Von Hoch-Zeiten wie damals in Kana und von Tiefen. In diesem Klang schwingt auch mit, dass einmal nichts mehr zu hören war von Gott. Einmal, am Kreuz, da ist die Liebe untergangen. Das Böse hat scheinbar ein für alle Mal gesiegt. Böse Worte, verräterische Sätze, betrügerisches Flüstern schwingt in diesem Klang mit. Aber Gottes Klang hat all das mit seiner Liebe eingeholt und umwoben. Das Gute hat das Böse überwunden.

 

Dann ist da ein dritter Klang, der Geist Gottes. Er ist wie eine Melodie, hell und klar. Die Melodie geht mir ins Herz. Sie weckt meine Liebe und erzählt von ihr. Sie reißt mich mit. Sie reißt uns mit. Sie verbindet uns miteinander und klingt in unser Leben hinein.

 

Drei Klänge Gottes: Aus dem ersten entspringt alles. Im zweiten klingt das ganze Leben an, manchmal flirrend, auch die schrägen Töne. Der dritte bringt frischen Wind. Auch wo ich nur einen der drei höre, kann ich die anderen erahnen. Sie klingen ineinander und durch einander hindurch. Erfasst dieser Klang mein Leben, singe ich Gott mein Lied und er klingt in mir.

 

Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben.

Die Töne, den Klang hast du mir gegeben

von Wachsen und Werden, von Himmel und Erde,

du Quelle des Lebens, dir sing ich mein Lied.

 

Liebe Gemeinde,

die Christinnen und Christen in Rom feiern regelmäßig Gottesdienste in ihren Häusern. Jetzt fordert Paulus sie auf: Tragt diesen Klang in Euren Alltag und in die Welt!

Die Geräuschkulisse, an die er denkt, ist die der Hauptstadt des römischen Weltreichs: Da sind viele Sklaven und einfache Leute. Sie rufen nach Freiheit. Andere schreien den Christen entgegen: Ihr Unruhestifter! Ihr gefährdet den Frieden! Mancher Mächtige gibt leise Instruktionen und sagt: Werft sie hinaus!

 

Einige aus der Gemeinde müssen gehen. Die anderen stehen vereinzelt. Manche treffen den richtigen Ton nicht mehr. Da wird es schwerer, die frohe Botschaft zum Klingen zu bringen.

 

Auch heute höre ich manches laute Geschrei und manchen giftigen Satz – in den Metropolen wie Rom und London, aber auch hier bei uns. – Manche schreien ihre Wut heraus auf der Straße, ein Fernseher dröhnt und einer predigt Hass. Eine fragt skeptisch, ob nicht Religion an sich schon gefährlich ist.

Mitten in die Geräusche unserer Kirchen und Häuser, unserer Städte, Metropolen und Dörfer hinein soll trotzdem Gottes Dreiklang der Liebe erklingen.

 

Hören wir, was Paulus der Gemeinde in Rom in seinem 12. Kapitel schreibt.

 

9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.

10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.

11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.

12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.

13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.

15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.

16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.

 

Liebe Gemeinde,

wenn Menschen sich von Gottes Klang bewegen lassen, dann klingt das auch in Alltagsgeräuschen an. Manchmal klingt er durch das Klappern von Töpfen hindurch, wo für Bedürftige gekocht wird – hier bei uns in Wieblingen einmal im Monat oder in den vielen Vesperkirchen, die in diesen Wochen zum Essen laden. Er ist zu hören, wo einer „We shall overcome“ anstimmt, wir werden es überwinden, obwohl ihm vorher ein anderer vor die Füße gespuckt hat.

 

Aber was brauchen wir, um Gottes Klang wahrzunehmen und um ihn weiterzutragen?

Seid brennend im Geist, beharrlich im Gebet, schreibt Paulus. Andere übersetzen: Lasst das Feuer des Heiligen Geistes in Euch glühen.

 

Ein Feuer braucht Luft, um zu brennen.

Beten – das ist für mich wie Luftholen, bevor ich anfange, zu singen. Dabei entsteht Raum in mir. Ich warte darauf, dass sich Gottes Klang in mir ausbreitet, dass sich sein Geist in mir entfacht.

Wenn das geschieht, spüre ich: Mitten in allen schrägen und schrillen Tönen ist etwas, worauf ich vertrauen kann und was mich trägt.

Manchmal treibt es mich auch, weil ich wirklich dafür brenne. Das verändert was ich höre, was ich sage und tue. Es verändert mich. Und damit ändert sich die Welt.

 

Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben.

Den Rhythmus, den Schwung hast du mir gegeben

von deiner Geschichte, in die du uns mitnimmst,

du Hüter des Lebens. Dir sing ich mein Lied.

Ich sing dir mein Lied, in Ihm klingt mein Leben.

Die Tonart, den Takt hast du mir gegeben

von Nähe, die heil macht – wir können dich finden,

du Wunder des Lebens. Dir sing ich mein Lied.

 

Liebe Gemeinde,

welche Klänge beschäftigen Sie in diesen Tagen besonders?

 

Ich denke an die Geräusche in einem Pflegeheim. Vor mir sitzt eine Frau mit stillen Tränen. Sie spricht leise und monoton. Alles versiegt, sagt sie, und ich versiege auch.

Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.

Die traurigen Sätze aushalten und die Stille danach. Die Alltagsgeräusche, die nicht helfen. Meine eigene Sprachlosigkeit. Eine Lösung hat keine von uns. Höchstens eine leise Ahnung, aber kaum hörbar. Ich ahne: Was sie sagt und erlebt, ist in Gott aufgehoben. In ihm hat das ganze Leben Platz. Er ist auch dort, wo etwas versiegt. – Aushalten. Da sein. Das will ich. Manchmal zeigt sich Gott ganz leise und still.

 

Wenn ich an die Klänge der letzten Wochen denke, dann denke ich auch an eine kontroverse, aber sachliche Diskussion hier im Wieblinger Bürgersaal. Es geht um das neue Ankunftszentrum für Flüchtlinge, das womöglich an den Rand unseres Stadtteils verlegt werden soll. Viele sind skeptisch, ob zwischen Gleisen und Autobahn ein guter Ort sein kann. Mich fasziniert die Haltung vieler Menschen an diesem Abend. Da ist von den Geflüchteten die Rede, die herkommen, von dem, was sie mitbringen und was sie brauchen. In der Diskussion geht es darum, wie die Menschen würdig wohnen können und gut ärztlich versorgt werden. Auch was die Leute vor Ort brauchen und wie das Miteinander gutgehen kann wird gefragt.

 

Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Gastfreundschaft. ‚Liebe zum Fremden‘ steht da im Griechischen. Paulus hat wohl vor allem an Mitchristen von weit her gedacht.

Für ihn und für uns stellt sich immer wieder die Frage: Wie klingt die Liebe angesichts dieser oder jener Entscheidung? Wie überall sind verschiedene Antworten möglich. Um die müssen wir ringen und manchmal darüber streiten – hier in Heidelberg, in Deutschland und in ganz Europa.

 

Unsere Aufgabe als Christinnen ist es aber, in jeder Diskussion nach Gottes Liebe zu fragen. Wir müssen sie suchen und dabei auch aufdecken, wo ihr etwas widerspricht. Die Liebe unter euch sei aufrecht. Das schreibt Paulus schließlich zu allererst.

Gottes Liebe entdecken. Manchmal ist das nicht leicht. Sie ist schwer zu erkennen. Sie taucht mal hier auf und mal da. Um sie wahrzunehmen, muss ich mein Gehör schulen.

Das kann ich nicht alleine.

Dazu brauche ich den Kontakt mit anderen. Gemeinsam entdecken wir, wo zwischen uns etwas von der Liebe zu spüren ist. Deshalb feiern wir Gottesdienste. Deshalb sind wir auch heute zusammen, sogar über viele Kilometer hinweg.

Wenn ich dann alleine unterwegs bin, in der Stadt oder bei einer hitzigen Diskussion – dann trage ich noch etwas davon im Herzen. Wo es nach außen dringt, verändert sich die Stimmung. Als hätte Gott die Welt auf sich eingestimmt.

 

Ich meine: Es ist wichtig, dass wir open air singen und spielen, auch wenn uns das herausfordert. Aber Gottes Klang meint das ganze Leben – mit seinem Lachen und seinem Weinen und mit allem, was uns begegnet. Mir und Ihnen. Er braucht unsere verschiedenen Klangfarben und Fähigkeiten. So unterschiedlich wir sind. Wagen wir es also und spielen unter freiem Himmel. Das ist anspruchsvoll. Aber es steckt auch voller Leben. Ich freue mich schon auf das nächste Open Air.

 

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, klinge hinein in Eure Herzen und Sinne. Er bewahre sie in Christus Jesus. Amen.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

13.12.2018
Verena Schlarb