Warum ich bin – vom Krieg geboren

Johanneskirche in Olching
Warum ich bin – vom Krieg geboren
Rundfunkgottesdienst aus der Johanneskirche in Olching
30.06.2019 - 10:05
07.02.2019
Harald Sauer
Über die Sendung

Wer bin ich? Wo komme ich her? Zu wem gehöre ich? Diese Fragen berühren nicht nur die familiäre Identität eines Menschen. Es sind auch spirituelle Fragen nach den Wurzeln des Seins.

„Born of War“, heißt das neueste Buch der Therapeutin und Schriftstellerin Gisela Heidenreich. Darin sammelt sie die Geschichten von Frauen und Männern aus Europa, die nicht nur während des Krieges, sondern durch Kriegsumstände gezeugt wurden: etwa von einem deutschen Soldaten mit einer französischen oder norwegischen, griechischen Mutter. Verleugnete Kinder, deren Leben vom abwesenden und oft unbekannten Vater geprägt ist. Gisela Heidenreich ist eines dieser Kinder „born of war“, dem sich die Fragen nach Identität und nach den Wurzeln des Seins stellen. Wessen Kind bin ich? 

 

Im Gottesdienst ist Gisela Heidenreich zu Gast, er greift diese Fragen und Geschichten auf und ist ein leidenschaftlicher Aufruf zum Frieden. Liturg und Prediger ist Pfarrer Harald Sauer. Musikalisch gestaltet das Barockensemble Alice Paper-Burghardt (Sopran)  Eva- Maria Wende (Arciliuto) und Barbara Janke-Aigner (Flöten) den Gottesdienst – mit Stücken von Thomas Campion, Andreas Hammerschmidt, John Dowland, Heinrich Schütz und Georg Friedrich Händel. Die Orgel spielt Franz Werner.

 

 

Folgende Lieder werden im Gottesdienst gesungen:

„Du schenkst uns Zeit“ Bayerisches Gesangbuch Nr. 592, Strophen 1, 3 und 5

„Zieh ein zu deinen Toren“, Bayerisches Gesangbuch Nr. 133, Strophen 1, 7 und 8

"Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt", Bayerisches Gesangbuch Nr. 659

 

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen
 

Bericht der Zeitzeugin und Autorin Gisela Heidenreich:

Ich bin ein „Kriegskind“, belastet wie Zehntausende andere auch, die während der Kriegsjahre geboren wurden. Mit knapp 4 Jahren wurde ich damit konfrontiert, dass die „Mutti“ bei der ich bis dahin aufgewachsen war nicht meine Mutter war, sondern deren Schwester, die ich wiederum für meine Tante hielt. So wurden meine vermeintlichen Brüder meine Vettern und deren heimgekehrter Vater wies mich als „SS-Bankert“ zurück. Die Frage nach meinem Vater wurde mit „in Russland vermisst“ beantwortet, die Frage nach SS mit „das verstehst Du nicht“, die Frage nach meinem ungewöhnlichen Geburtsort Oslo lapidar mit: „Im Krieg war Norwegen deutsch“. Tiefe Unsicherheit, das Schweigen oder „Vernebeln“ der Erwachsenen, die Tatsache, dass meine Mutter, kaum hatte ich sie als solche akzeptiert, 1947 vor meinen Augen von den Amerikanern verhaftet wurde verstärkte mein Gefühl, auf schwankendem Boden zu leben. Warum kam sie nicht zurück? Angeblich hatte sie in Nürnberg „dienstlich“ zu tun. War ich vielleicht „schuld“ daran? Ich spürte immer, dass mit mir etwas nicht stimmte.

Die Sehnsucht nach dem Vater wuchs. Er war ja nur „vermisst“, nicht „gefallen“ wie andere Väter! Er konnte doch in Gefangenschaft leben und eines Tages zurückkommen! Er würde mir alles erklären, was ich nicht verstand. 1955 hörte ich von den Erwachsenen, dass Adenauer die Entlassung der letzten Kriegsgefangenen aus den sibirischen Lagern erreicht habe. Ich lief alleine zum Bahnhof, als der angekündigte Transport in München ankam. Ich kannte den Namen meines Vaters nicht und hatte kein Foto von ihm, aber ich war überzeugt, wir würden uns erkennen – wir müssten es doch beide spüren, dass wir uns suchten.

Traurig beobachtete ich, wie ausgemergelte Gestalten in verschlissener Kleidung auf wartende Frauen und Kinder zuliefen, wie sie sich weinend umarmten – und wie wünschte ich, mein Vater würde mich hochheben wie der Mann das Mädchen neben mir und mich im Kreis herumwirbeln, dass meine Zöpfe flögen und ich könnte die Arme um seinen Hals schlingen! Natürlich war mein Vater nicht dabei – er war nicht vermisst, er lebte längst bei seiner Familie, was meine Mutter wusste, aber mir nicht sagte.

Ich habe aufgehört zu fragen. Es war ein Schock, als mir durch einen Pressebericht klar wurde, warum ich in Oslo geboren wurde. Den „Lebensborn“ Stempel auf meiner Geburtsurkunde hatte ich zuvor nicht entziffert. Ich war also ein „Lebensbornkind“ aus Himmlers SS- Programm des „Lebensborn e.V.“, der dafür sorgen sollte, dass möglichst viele Frauen „guten Blutes“ auch uneheliche Kinder im geschützten Rahmen der Lebensbornheime gebären sollten – sofern sie von rassisch ebenbürtigen Männern gezeugt worden waren.

Die Legende, „Lebensbornheime“ seien „Zuchtanstalten“, gewesen, ist inzwischen historisch widerlegt , damals stürzte sie mich in tiefe Verzweiflung. Ich war also ein „Produkt“ des Rassenwahns der Nazis? War das der Grund für das hartnäckige Schweigen meiner Familie?

Ich wurde 1943 in Oslo geboren, weil meine Mutter, die in München für den „Lebensborn“ arbeitete, sich an die dortige Zentrale versetzen ließ, um die Schwangerschaft zu verheimlichen. Nach meiner Geburt brachte sie mich als „norwegisches Waisenkind“ zu ihrer Schwester nach Bad Tölz,

Bis Kriegsende war ich erwünscht – von Geburt an durch eine „Namensweihe“ in die SS-Sippengemeinschaft der „Herrenmenschen“ aufgenommen. Nach dem Krieg war ich nur noch ein uneheliches Kind, ein unerwünschtes „Kind der Schande“, so erklärte ich mir viel später das Verhalten meiner Mutter.

Meinen Vater habe ich mit 20 Jahren durch Zufall gefunden und es war mir ein großer Trost, dass ich aus einer Liebesbeziehung entstanden war und ich war glücklich, dass seine Familie mich aufnahm. Auch dort wurde über die Vergangenheit geschwiegen und ich habe nicht nachgefragt – aus Angst, den liebevollen Vater und die spät gefundenen Geschwister wieder zu verlieren.

Es dauerte weitere Jahrzehnte, bis ich genaue Nachforschungen über den „Lebensborn e.V“ und die Rolle meiner Mutter in dieser rassepolitischen Institution unternahm. Es war schwer – aber schließlich habe ich mich mit meiner Mutter versöhnt und gelernt, dass ich nicht schweigen darf aus Scham oder Schuld über meine Herkunft, sondern aus Verantwortung für die nächste Generation sprechen muss.

 

„Born OF war“, also VOM Krieg geboren, so wird eine Gruppe europäischer Kriegskinder aus dem 2.Weltkrieg genannt.

Diese „Kinder des Krieges in Europa“ haben von Nord bis Süd vieles gemeinsam: Teilen sie auch schreckliche Erlebnisse, Not und Entbehrung mit allen Kindern ihrer Generation, so sind ihre Biografien zusätzlich geprägt durch nagende Zweifel an ihrer Herkunft und den schmerzhaften Mangel an Identität. So paradox es klingt: Diese Kinder verdanken ihr Leben dem Krieg, weil sie im Krieg durch Beziehungen mit dem Feind entstanden – aus Liebe oder Ideologie – manchmal auch durch Gewalt.

Deutschlands Eroberungs- und Vernichtungskrieg führte auch dazu, dass in allen von Deutschen besetzten Ländern Europas zwischen 1939 und 1945 deutsche Soldaten Kinder zeugten, von Norwegen über Dänemark, in den Niederlanden, Belgien und Frankreich, auf den Kanalinseln, in Italien und Griechenland, in den Balkanstaaten, der damaligen Tschechoslowakei, Polen bis hin zu Teilen der Sowjetunion.

Sie wuchsen als „Kinder des Feindes“, als „Kinder der Schande“ im Land ihrer Mütter auf, die nicht selten härter bestraft wurden als Kollaborateure. Weil sie sich mit dem Feind eingelassen hatten, wurden sie als „Sündenböcke“ kahl geschoren mit Schimpf und Schande durch die Straßen gejagt. Ihre Kinder erfuhren meist wenig Liebe, oft genug den Hass und die Schmach, „Deutschenbälger“ und „Nazibastarde“ zu sein. Der Versuch vieler Mütter, die wahre Herkunft solcher Kinder zu verleugnen und sie als „Kuckuckskinder“ in einer Ehe mit einem Landsmann unterzubringen war selten hilfreich, ebenso die Freigabe zur Adoption.

Die Wenigsten sind in der Geborgenheit einer Familie aufgewachsen, den meisten wurde ihre Herkunft lange verheimlicht, sie stießen auf eine Wand des Schweigens und der Ablehnung. Daraus resultierten diffuse Gefühle der Unsicherheit, der Schuld und der Scham. Viele fühlen sich „fremd in der eigenen Haut“, kennen Selbstzweifel und das mangelnde Selbstbewusstsein. Verstärkt durch die Erkenntnis „Täterkind“ oder „Feindeskind“ zu sein und/oder Produkt des krankhaften Rassenwahns der Nationalsozialisten.

Viele waren oder sind noch immer seit Jahrzehnten auf der Suche nach ihren Vätern und damit nach ihrer wahren Identität, Wenn sie – meist spät – erfahren, dass ihr Vater Deutscher war, qälen sie Fragen wie:

„War mein Vater ein Mörder? Habe ich seine schlechten Gene geerbt?

Die Holländerin Monika hat lange „mit dem deutschen Vater in mir“ gerungen und kommt zu dem versöhnlichen Schluss:

„Ich wollte doch den deutschen Vater anerkennen und nicht abweisen! Dann musste ich auch seine Geschichte und die Geschichte seines Landes annehmen“.

Alle europäischen Kriegskinder verbindet auch das lebenslange Schweigen und Lügen der Mutter.

„Mehr noch als die plötzliche Erkenntnis, dass mein Vater Deutscher war, hat mich die Tatsache erschreckt, dass meine Mutter mich all die Jahre angelogen hatte“, erzählt der Däne Arne, und der Finne Pertti fragt sich: „Warum wollte meine Mutter keinerlei Informationen preisgeben, nicht einmal, als sie eine alte Frau war?“

Mütter nahmen oft genug ihr Geheimnis mit ins Grab, nur wenige, wie die über neunzigjährige französische Mutter von Huguette konnten kurz vor ihrem Tod mit einem Seufzer der Erleichterung sagen: „O ja, ich habe ihn geliebt!“.

Väter mussten ihr Kind zurücklassen, weil sie versetzt wurden oder sie wussten nichts von seiner Existenz. Selten genug konnten sie als alte Männer endlich ein fremdes „Kind“ in die Arme nehmen. Manche Stiefväter haben dem Kind eines Feindes ihren Namen gegeben, selten ihre Liebe, oft genug haben sie es misshandelt. „Die Erinnerungen an die Prügel sind heute noch da“, erzählt der Norweger Einar.

Als die „Kinder des Krieges“ heranwuchsen, waren die meisten europäischen Staaten untereinander zerstritten und Feinde Deutschlands. Die „Kinder“ waren schließlich glücklich über ein vereintes Europa, in dem sie sich endlich „identisch“ fühlen konnten.

„Waren wir nicht die ersten echten Europäer?“, fragt die dänische Deutsche Henny, und der griechische Deutsche Gerrit konstatiert: „Ich habe mich damals schon als Europäer gefühlt“.

Alle „vom Krieg“ und aus Liebe zum Feind geborenen Kinder sind auch „Brückenpfeiler“ für ein geeintes, friedliches Europa.

Der Verein der französischen Kriegskinder heißt: „Coeurs sans Frontières – Herzen ohne Grenzen“ – welch eine schöne Aufforderung für gegenseitige Liebe und Respekt ohne politische, religiöse oder geographische Grenzen.

In dieser Zeit, in der nationale Interessen wieder zu dominieren drohen und rechtsextreme Randgruppen in die Mitte der Gesellschaft rücken, da der europäische Gedanke auch an der würdelosen Auseinandersetzung über eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen zu zerbrechen droht, ist es notwendiger denn je die Erinnerung wachzuhalten – mit Nationalismus und Populismus begann die Zerstörung Europas im letzten Jahrhundert.

 

 

Predigt

„Wer bin ich? – Frag doch die anderen!“ so der Titel eines Buches der Psychologin Eva Jaeggi.

Sie beschreibt darin die Suche nach der eigenen Identität als Balanceakt, der jedem Menschen aufgegeben ist. Auf sich allein gestellt ist er nicht zu bewältigen. Sie können mir sagen, wie sie mich sehen und wo sie mich sehen. Sie können mir einen Spiegel vorhalten in welchem ich erkenne, wer ich bin und wie ich bin. Sie können mir die Augen dafür öffnen, dass ich mehr bin als ich meine zu sein.

In der Frage „Wer bin ich?“ schlummert ein ganzes Fragenpaket: „Wo komme ich her? Wohin gehöre ich? Wohin gehe ich?“

Schwierig wird es wenn die eigene Herkunft vage oder diffus bleibt. Wenn aus ihr ein Geheimnis gemacht wird, welches ich trotz aller Anstrengungen nicht lüften kann.

Besonders schlimm ist es, wenn das Verlässliche sich als Lüge entpuppt und das Fundament meiner Identitätssuche zerbröselt. Ein Kind empfindet intuitiv: Da stimmt etwas nicht. Und schließt daraus: Mit mir stimmt etwas nicht. Wie befreiend, wenn sich dann herausstellt: Nicht mit dem Kind stimmte etwas nicht. Es waren die Erwachsenen, mit denen etwas nicht stimmte. Als Antwort auf die identitätsstiftenden Fragen tischten sie Lügengeschichten auf. Die Mutter ist nicht die wahre Mutter, sondern die Tante die das Kind auf Wunsch großgezogen hat. Der Vater ist nicht im Krieg gefallen, sondern lebt mit seiner Familie an einem anderen Ort. Deine Geschichte, liebe Gisela, geht mir an die Nieren. Ich spüre den tiefen Schmerz des Kindes von damals, dass der eigene Vater kein Interesse an ihm hat. Kindliche Gefühle wurden missbraucht. Das Urvertrauen hat Schaden genommen.

Liebe Gisela Heidenreich – dir wurde diese seelische Not zugemutet. Du teilst sie mit vielen anderen durch die Kriegsumstände geborenen Kindern, die ihre wahre Herkunftsgeschichte herausgefunden haben – irgendwann einmal per Zufall, dank ihrer Hartnäckigkeit, oft aber viel zu spät in ihrem Leben. Die Eltern essen saure Trauben und den Kindern werden ihre Zähne stumpf.

Dieses Sprichwort transportiert die Erfahrung einer verhängnisvollen generationenübergreifenden Schicksalsgemeinschaft. Die Eltern- und Großelterngeneration begeht schwerwiegende Fehler und die Kinder und Enkel müssen diese Fehler ausbaden. Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Handelt es sich um eine Bürde, die es widerspruchslos und gottergeben zu tragen und zu ertragen gilt?

Wir hören einen fundamentalen Einspruch. Der Prophet Hesekiel richtet ihn im Auftrag Gottes aus: So wahr ich lebe, sagt Gott, dieses Sprichwort soll bei Euch in Israel nicht mehr in den Mund genommen werden. Es hat seine Deutekraft für das Miteinander der Generationen verwirkt. Es soll Euch nicht mehr Eure Lebenskraft rauben! Gebt ihm keinen Raum in Euren Gedanken!

Ihr gehört zu mir, sagt Gott und somit seid ihr im tiefsten Kern frei, zu denken und zu handeln. Ihr seid frei, die Euch belastenden Gepäckstücke abzuwerfen. Ihr seid frei neu anzufangen. Ihr seid frei Euch zu lösen und neu zu binden, weil ich mich an Euch gebunden habe. Und Euch garantiere, frei zu leben und zu handeln.

Bedingungslos.

Die Frage „Wer bin ich?“ wird dann nicht durch meine Vergangenheit dominiert. Sie wird im Hier und Heute beantwortet.

Für dich, liebe Gisela Heidenreich, hieß der Weg in die Freiheit: niemals Schweigen. Die Geschichte erzählen, die Wahrheit erforschen, aussprechen. Therapeutisch arbeiten und anderen Menschen zur Wahrheit über ihr Leben verhelfen. Schüler, die bei den Friday for future Demonstrationen auf die Straße gehen, nehmen auch Freiheit für sich in Anspruch. Sie lassen sich nicht binden und einschüchtern von den Autoritäten, die auf die Einhaltung der Regeln pochen. „Werdet Ihr erst einmal groß und übernehmt Verantwortung. Dann werdet Ihr sehen, wie kompliziert das Leben ist.“ Längst schon stellen sich Eltern und Großeltern an die Seite der Schüler. Ihr stellt die richtigen Fragen. Seid mutig, fordert Konsequenzen zur Rettung des Klimas.

Die Frage nach der eigenen Identität wird so zu einer in die Zukunft gerichteten Frage: Wer will ich sein? Wer will ich mit anderen gemeinsam sein? Was bin ich dafür bereit zu tun und zu geben?

 

Wer will ich gemeinsam mit anderen sein?

Ich frage nicht nur bei den anderen nach, um zu klären wer ich bin. Ich entdecke, dass ich unabhängig von anderen diese Frage gar nicht abschließend klären kann. Ich bin ich gerade in der Gemeinschaft mit anderen. Ich bin ich gerade dadurch, dass ich mich mit anderen verbinde.

Jetzt wird es richtig spannend. Wie wird diese Gemeinschaft gedacht? Welcher Weg wird beschritten eine solche identitätsstiftende Gemeinschaft zu formen?

 

Der nationalsozialistische Rassenwahn war ein menschenverachtender Versuch. Die Reinheit des Blutes und der Rasse sollte Gemeinschaft verbürgen. Wer diesen Kriterien nicht entsprach, galt als Mensch minderen Wertes oder gar als lebensunwert. Der von der SS getragene Lebensborn e. V. hatte das Ziel, auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenhygiene die Geburtenrate „arischer“ Kinder zu erhöhen. Dieser Zweck heiligte rechtlose Mittel: Zwangsadoption, Verschleppung, erzwungene Schwangerschaften.

Es will nicht in meinen Kopf: Wie kann es sein, dass Menschen auf diese Ideologie ihre Identität gründen? Muss ich, um meiner eigenen Bedeutung sicher zu werden, andere Menschen ausgrenzen, sie verachten, als minderwertig stigmatisieren? Solch eine Gemeinschaft lehrt mich das Fürchten und hilft mir nicht ins Leben.

 

Es braucht einen anderen Weg. Der Apostel Paulus verkündet leidenschaftlich ein neues Modell: Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.

Paulus beschreibt keinen Wunschzustand und keine gesellschaftliche Utopie. Er listet keine ethischen Forderungen auf, die es zu erfüllen gilt. Er beschreibt die Wirklichkeit. Die ersten christlichen Gemeinden hatten sich quer zu den sozialen Milieus im römischen Reich gegründet. Soziale und religiöse Schranken waren abgeschafft unter den Christen. Man war weder eindeutig jüdisch, noch griechisch, weder versklavt noch frei, weder männlich noch weiblich. Man mischte sich, betonte das Gemeinsame, entschied auf Augenhöhe. Das war ungewöhnlich und höchst verdächtig. Die Mächtigen kapierten es sehr schnell. Gewinnt diese Bewegung an Bedeutung, dann verlieren wir unsere Privilegien. Eine Gemeinschaft, die Standesunterschiede ignoriert, nationale und kulturelle Grenzen überschreitet, wo kämen wir da hin? Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge. Sagt Kurt Marti.

Die Christen hatten sich aufgemacht und geschaut wohin man kommt, wenn man geht. Paulus beschreibt die Schlüsselerfahrung, mit der die Menschen losziehen. Hineingetauft. Wir sind hineingetauft. Es war die Einsicht, als Menschen auf einen Vorschuss angewiesen zu sein, den man sich selber nicht geben kann. Jede und jeder ist doch bedürftig und angewiesen auf Anerkennung und Zuwendung. Darin sind wir wesensverwandt. Diesen Vorschuss können wir miteinander feiern und aus ihm leben. Den Vorschuss der Liebe Gottes, der Energie verleiht zu integrieren und eben nicht zu spalten. Der den Wunsch in mir wachruft, mich mit anderen zu verbinden, mich mit Ihnen zu solidarisieren. Ein Vorschuss, der mich erfahren lässt, dass ich schon jetzt genüge und nicht irgendwann etwas Besonderes und Vorzeigbares entwickeln muss, damit ich genüge. Ein Vorschuss, der mich von dem Druck befreit, die Frage „Wer bin ich?“ ein für alle Mal und abschließend klären zu müssen.

 

Warum bin ich und Wer bin ich? Ich bin weder Opfer der Verhältnisse noch Spielball der Geschichte. Ich bin weder das, was andere von mir sagen noch das was Eltern für mich getan, nicht getan oder mir angetan haben. Ich bin nicht das, was die Gemeinschaft von mir fordert.

Ich bin ein Mensch der aus der Liebe Gottes leben darf. Ich bin ein Mensch, der in die Freiheit gerufen ist und sich deshalb verantwortlich an andere bindet. Amen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

07.02.2019
Harald Sauer