„Die Wahrheit wird euch frei machen.“

Friedhof

Gemeinfrei via unsplash.com (Neil Thomas)

„Die Wahrheit wird euch frei machen.“
Vom Umgang mit nationaler und persönlicher Schuld
19.11.2017 - 07:05
16.11.2017
Sigurd Rink
Über die Sendung:

Was verleugnet und verdrängt wird, kehrt oft umso heftiger zurück. Es kommt darauf an, Versagen und Schuld zu benennen. Wer die Grautöne der eigenen Geschichte anschaut, entdeckt manchmal einen Hoffnungsschimmer.

Der Feiertag im DLFK am 19.11. um 07.05 Uhr.

 
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Volkstrauertag: Viele Menschen in unserem Land, unserem Volk, trauern. Gedenken unzähliger Toter und Traumatisierter der beiden Weltkriege im vergangenen Jahrhundert. Schwerer noch wiegt, dass wir Deutsche uns eigenen politischen Versagens erinnern, verhängnisvoller Entscheidungen, ausgebliebener Courage, die den ganzen Kontinent über alle Abgründe des Menschenmöglichen und des Vorstellbaren hinaustrieben.

 

Unser Volk hat Grund zur Trauer und auch zur Scham. Aufrechnen mit Fehlern anderer Völker ist etwas für Krämerseelen, erniedrigte nur einmal mehr.

 

Wohl kaum einer hat das Grundgefühl einer ganzen Generation in so starke, lyrische Worte gefasst, wie der Hamburger Wolfgang Borchert. Morgen ist sein 70. Todestag. Ein Grund mehr, an ihn zu erinnern. Nur 26 Jahre wurde er alt, aber er hat sich schon in diesen jungen Jahren der Realität und dem Grauen des Krieges gestellt wie kaum ein anderer.

 

Im Mai 1941, also gerade einmal 20 Jahre alt, wird er als Panzergrenadier an die Ostfront einberufen.

Von dort schreibt er einen „Brief aus Russland“:

 

Man wird tierisch.

Das macht die eisenhaltige

Luft. Aber das faltige

Herz fühlt sich manchmal noch lyrisch.

Ein Stahlhelm im Morgensonnenschimmer.

Ein Buchfink singt und der Helm rostet.

Was wohl zu Hause ein Zimmer

Mit Bett und warm Wasser kostet?

Wenn man nicht so müde wär!

 

Aber die Beine sind schwer.

Hast du noch ein Stück Brot?

Morgen nehmen wir den Wald.

Aber das Leben hier ist so tot.

Selbst die Sterne sind fremd und kalt.

Und die Häuser sind

so zufällig gebaut.

Nur manchmal siehst du ein Kind,

das hat wunderbare Haut.“

 

 

 

Nach gut einem Jahr an der Front steht Wolfgang Borchert 1942 zum ersten Mal vor Gericht.

Er hatte die Sinnhaftigkeit des Krieges in Frage gestellt und das passte den Herren nicht ins Konzept.

So wird aus dem 21 Jahre alten jungen Mann ein Widerstandsgeist und ein Kriegsgegner.

In seiner Haft in Berlin schreibt er das kurze Gedicht: „Der Mond lügt. Moabit.“

 

Der Mond malt ein groteskes Muster an die Mauer.

Grotesk? Ein helles Viereck, kaum gebogen,

von einer Anzahl dunkelgrauer

und schmaler Linien durchzogen.

Ein Fischernetz? Ein Spinngewebe?

Doch ach, die Wimper zittert,

wenn ich den Blick zum Fenster hebe:

Es ist vergittert!“

 

 

 

Schwer verwundet an Leib und Seele kehrt Wolfgang Borchert mit Kriegsende nach Hause zurück.

Doch es werden ihm nur noch zwei Jahre zum Leben und zum Dichten bleiben. Die Wundmale des Krieges waren nicht mehr zu heilen.

 

Heinrich Böll, ein anderer Großer der Nachkriegsliteratur schrieb über ihn:

 

„Borcherts Schrei galt den Toten, sein Zorn den Überlebenden, die sich mit der Patina geschichtlicher Wohlgefälligkeit umkleideten.“

 

Wolfgang Borcherts Lyrik, seine Theaterstücke, seine Prosa waren seine Form, das unaussprechliche Grauen des Krieges zu artikulieren.

 

Während anderenorts schon gleich im Sommer 1945 der Ruf laut wurde, es müsse doch jetzt ein Ende haben mit der Erinnerung an die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur und die Grauen des Krieges schaute er genau hin, fand seine subjektive, persönliche Wahrheit und scheute sich auch nicht, das zu beschreiben, was weh tut.

 

 

 

Natürlich war das Verlangen nach Bindung und Tiefe, nach Glück und Beheimatung unendlich groß in diesen Tagen, Wochen, Monaten nach dem Kriegsende. Die Kirchen waren voll. „Not lehrt beten“, sagt man. Oft zu Recht.

„Wir sind noch einmal davon gekommen!“, riefen sich die Überlebenden zu und zugleich: „Nie wieder Krieg!“

 

Es gab ein unendlich großes Verlangen nach Trost. Nicht aus eigener Leistung heraus oder aus dem, was Deutsche denn doch an Gutem vollbracht haben in der Geschichte. Menschen wollten Trost erfahren, der trägt; wollten frei werden von den Zwängen eigener Gerechtigkeit. Etwas hören wollten sie. Etwas gesagt bekommen.

 

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem

Namen gerufen, du bist mein!

 

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem

Namen gerufen, du bist mein!

 

Fürchte dich nicht!

Nicht, weil du stark bist. Weil keiner dir am Zeug flicken kann. Weil du moralisch überlegen bist oder die Macht hast, alle anderen zum Schweigen zu bringen.

 

Fürchte dich nicht!

Weil ein Anderer- der, auf den es ankommt- dich sucht, dich sieht, dich durchschaut- und liebhat!

Jemand, der diese Sehnsucht in einprägsame, fast zynisch klingende Worte gefasst hat, war ausgerechnet ein Schweizer Bürger und Denker, der evangelische Theologe Karl Barth:

 

„Her zu mir, ihr Unsympathischen, ihr bösen Hitlerbuben und -mädchen, ihr brutalen SS-Soldaten, ihr üblen Gestaposchurken, ihr traurigen Kompromissler und Kollaborationisten, ihr Herdenmenschen alle, die ihr nun so lange geduldig und dumm hinter eurem sogenannten Führer hergelaufen seid! Her zu mir, ihr Schuldigen

und Mitschuldigen, denen nun widerfährt und widerfahren muss, was eure Taten wert sind! Her zu mir, ich kenne euch wohl; ich frage aber nicht, wer ihr seid und was ihr getan habt; ich sehe nur, dass ihr am Ende seid und wohl oder übel von vorne anfangen müsst; ich will euch erquicken, gerade mit euch will ich jetzt vom Nullpunkt her neu anfangen!“

 

Das hat Karl Barth, geistiger Vater der Bekennenden Kirche, 1945 über Leichenberge und rauchende Trümmer hinweg den Deutschen zugerufen. Vor Gott gilt nichts als eben SEIN Wille, Gott zu sein, Verbindung zu stiften, Menschen würdig zu machen, die unwürdig sind.

„Die Wahrheit wird Euch frei machen“

Dieser kurze, prägnante Satz Jesu aus dem Johannesevangelium könnte zugleich ein Leitwort über dem Denken und Wirken dieses Theologen sein.

 

 

Auch in diesem Jahr hat Deutschland sich mit der 1945 längst nicht abgeschlossenen Vergangenheit auseinandergesetzt und auch herumgequält Besonders standen und stehen die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Fokus. Was Tradition sein kann und darf, wurde zuweilen hektisch diskutiert. Womöglich hat es sich einmal mehr gerächt, dass viel zu schnell und leichtfertig Schlussstriche herbeigewünscht wurden, dass nötiges Hinsehen lange Zeit unterblieb. Was verleugnet und verdrängt wurde, kehrt umso heftiger zurück.

 

Ein Grund mehr, sich heute zu wünschen, getröstet und getrost zu bleiben.

 

Mir sagen die Worte Jesu: Sei gelassen und getrost! Fürchte Gott- und lerne daran, Furcht und Kleinmut in der Weit zu überwinden. Lass dich von den Forderungen der Weit nicht auffressen. Nicht umfassende Korrektheit rettet, nicht mein richtiges Handeln, sondern Gottvertrauen allein. Und in der Weit handelst du eben „weltlich“ – nur lass' dich davon nicht auffressen, bewahre dir die innere Distanz.

 

Was immer an Schuldscheinen gegen dich zeugen mag: Das letzte Zeugnis gibt ein Anderer.

Jahrhunderte vor Jesus hat sich der Prediger Salomo mit diesem Lebensthema auseinandergesetzt. Er hat seine Einsicht und Erkenntnis knapp zusammengefasst in der klugen Weisung:

 

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

 

Selbst gerecht sein zu wollen, das ist zunächst das Natürlichste überhaupt, eine Frage der Ehre sozusagen. Wer gilt schon gern als unzuverlässig, als Gesetzloser und Verbrecher, als einer, der Schuldscheine fälscht?

 

Gesetz und Moral sind zu fürchten. Ohne Gesetz und Moral könnten Menschen auch nicht zusammenleben. Und doch weist Gottesfurcht über die Gesetzesfurcht hinaus.

 

Kern der reformatorischen Entdeckung, die wir in diesem Jahr gefeiert haben, ist ja die Unterscheidung zwischen meiner eigenen, kleinlichen Gerechtigkeit und der unendlich austeilenden, schöpferischen Gerechtigkeit Gottes. Gott wird mich am Ende, im Gericht, nicht messen, wiegen, prüfen. Wohl wird er mir vor Augen führen, wo ich Menschen verletzt und enttäuscht habe, das wird nicht harmlos sein. Da werden meine Schuldscheine gezählt. Überwältigen wird Gott mich aber nicht als ein strafender Richter, sondern mit seiner Liebe.

 

Wenn es drauf ankommt, zählt Gottes Wille, dass er mein Gott sein will, dass er Beziehung sucht und hält, dass er mich nicht umkommen lässt, wie verdient das auch immer sein mag.

 

„Gericht“ kommt ursprünglich nicht von „Hinrichten“, sondern von „Richten“ im Sinne vom Gerade-Machen. Gott macht es am Ende gerade und gut, besagt meine Hoffnung.

 

 

Dass Gott richtet und nicht hinrichtet, das vor allem ist für mich der Trost des Volkstrauertags. Wenn wir bei Trost bleiben wollen, dann suchen wir nicht eine Rechtfertigung in Aufrechnen und Rechthaberei. Dann lassen wir uns den Trost des Evangeliums gesagt sein. Niemand könnte sich selbst Besseres tun, als Gott ihm schon längst Gutes getan hat.

Gott liebt, auch die Schuldigen. Dass seine Liebe nicht aufrechnet, das macht sie besonders. Mit dem Braven gut sein, das kann jeder, sogar jeder kleinliche Despot. Gott liebt­ und macht damit liebenswert. Noch einmal der Theologe Karl Barth – so wie er die Stimme Gottes hört:

 

Her zu mir, ich kenne euch wohl; ich frage aber nicht, wer ihr seid und was ihr getan habt; ich sehe nur, dass ihr am Ende seid und wohl oder übel von vorne anfangen müsst; ich will euch erquicken, gerade mit euch will ich jetzt vom Nullpunkt her neu anfangen!“

 

Sich das gesagt sein zu lassen, das macht nicht zufrieden oder gar träge. Das bewegt etwas, motiviert, in der Welt Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich mit Gottes Gerechtigkeit beschenkt bin, dann werde ich Gerechtigkeit weiterschenken. Dann werde ich in meinem kleinen Bereich versuchen, so gütig zu sein, so lebensspendend, wie Gott es im Großen ist.

 

In diesem Zusammenhang denke ich an den Feldwebel der Wehrmacht Anton Schmid. Er rettete 300 Juden aus dem Getto von Wilna. Ohne Befehl, seinem Gewissen treu. Er trug damit wesentlich bei zum Entstehen einer jüdischen Widerstandsbewegung in Litauen und Weißrussland. Er, der Feldwebel der Wehrmacht. Dafür verurteilte ihn ein Militärgericht zum Tode. Heute haben viele gelernt und viele nehmen ihn zum Beispiel. Die Bundeswehr-Kaserne in Blankenburg im Harz trägt seinen Namen. Ja, auf diesen Kameraden können deutsche Soldaten stolz sein. Er folgte seinem Gewissen, wo selbst hohe Offiziere sehenden Auges in Schuld und Verderben mitliefen.

 

Menschen, die Gottes Güte kennen, akzeptieren die Grautöne der eigenen Geschichte und der Geschichte ihres Landes. Keine Schuld katapultiert aus der Geschichte heraus. Und kein Heraushalten erspart, mitschuldig zu werden.

Dass alles an Gottes Güte hängt, gibt uns das menschliche Maß. Und es gibt ihnen zugleich den Auftrag, uns nicht aus der Geschichte davon zu stehlen.

 

Du bist nie zu schlecht, um gerade mit Deinen Begabungen in der Welt etwas beizutragen und auszurichten.

Und Du bist nie zu gut, um Dir nicht im Einsatz für eine bessere Welt die Hände schmutzig zu machen. Ja, genau diese Welt, so wenig sie sich den Heile-Welt­ Träumen einfügt, sie lohnt den Einsatz.

 

Soldaten und Soldatinnen, das beeindruckt mich als Militärbischof immer wieder, sind die Menschen, die da sind und Verantwortung übernehmen, wenn die Politik anders nicht mehr weiter weiß. Unsere Soldaten treten auf Beschluss unseres demokratischen Parlaments in vielen Ländern der Erde für Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Menschenrechte ein. Das unterläuft eine geichgültige oder zynische Ohne-mich-Haltung.

Dass Soldaten im Namen unserer Nation handeln, zeigt: Wir nehmen Teil an der Geschichte, mit aller Vorsicht, unter jeder denkbaren Rechenschaft. Aber wir halten uns nicht heraus, wo es gilt, Fehlentwicklungen entgegen zu treten.

 

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

 

Wie gut, das zu beherzigen!

Und auf der anderen Seite zugleich zu wissen: Mit sich selbst ins Gericht gehen, sich in sich selbst einschließen und verkrümmen, tötet am Ende. Gottes Gnade zu vertrauen, das macht mutig. Es öffnet für die Aufgaben der Zeit: Ich werde in der Welt gebraucht. Größer als Gottes Güte wird meine Schuld nicht sein.

 

Wer bei Trost ist, getröstet, kann in der Welt Verantwortung tragen. Nur wer sich selbst barmherzig annimmt, wird eine barmherzige und darum menschenwürdige Ordnung in der Welt aufbauen und verteidigen. Eigene Fehler und Sünden zu verschweigen und zu verleugnen, das lähmt. Es stimmt: Die Wahrheit wird frei machen. Ein offenes Bekenntnis befreit. Was macht es denn letztlich, wenn ich meine Schuldscheine offenlege? Eines ist wichtig: Den „Tilger der Sünden“ anzunehmen. Jesus ist Gottes Liebe in Person. Darin, so glaube ich fest, gründet die Zukunft unseres Volkes. Wer den Tilger der Sünden annimmt, kann in der Welt frei und verantwortlich handeln.

 

ln ein paar Wochen, zum Fest der Geburt Jesu, werden wir wieder singen und dabei vor allem hören:

 

Wann oft mein Herz im Leibe weint und keinen Trost kann finden,

rufst du mir zu: Ich bin dein Freund, ein Tilger deiner Sünden.

Was trauerst du, o Bruder mein?

Du sollst ja guter Dinge sein, ich zahle deine Schulden.

 

Du sollst ja guter Dinge sein. Das ist ein wunderbares Versprechen. Ein Segen, den man gerne entfaltet und in weitere Worte kleidet:

 

Fürchte dich nicht!

Der Vater im Himmel kennt dich und will dich, genau dich, auf deinem Weg geleiten.

Fürchte dich nicht!

Der Heilige ist heilig, indem er klein und schwach wird, an deine Seite kommt.

Sein Reich kommt, das alle Tränen abwischt.

Sein Wille geschieht, ob du es für möglich hältst oder verzweifelt bist.

Himmel und Erde werden eins, so wahr Gott Mensch geworden ist.

Fürchte dich nicht!

Das tägliche Brot gibt er dir, und schenkt dir Mut zum Vergeben dazu.

Hinter jeder Versuchung steht er, um dich zu bewahren.

Wo das Böse herrscht, hat das Leben immer schon triumphiert.

Fürchte dich nicht!

16.11.2017
Sigurd Rink