Ein Requiem gegen den Krieg

Ein Requiem gegen den Krieg

Gemeinfrei via pixabay.com (Thomas Rüdesheim)

Ein Requiem gegen den Krieg
Benjamin Brittens Botschaft am Karfreitag
30.03.2018 - 07:05
25.01.2018
Rainer Stuhlmann, Thomas Neuhoff
Über die Sendung:

Welche Bedeutung hat der Tod Jesu für das millionenfache Leiden und Sterben in dieser Welt? Benjamin Britten nutzt  die Tradition der Totenmesse und schafft  ein neuartiges Requiem mit einer Absage an den Krieg. Sein „War Requiem“ wird zu einem Appell der Versöhnung.  

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Die Bedeutung des Todes Jesu wurde Jahrhunderte lang auf Sündenvergebung reduziert. Aber in der Bibel wird dem Tod Jesu eine viel weitere Bedeutung zugemessen. Hier gibt der Karfreitag nicht nur Antwort auf Luthers kleine Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“. Hier wird die große universale Frage nach Gottes Gerechtigkeit gestellt. Warum und wie lange noch lässt Gott dem Unrecht und Leiden in der Welt seinen Lauf? Es geht am Karfreitag nicht nur um Sünde und Schuld, also um das Böse, das Menschen tun, sondern es geht vor allem um das Elend in der Welt, um das Böse, das Menschen erleiden. Die Passionsgeschichte Jesu wird als eine von Millionen anderer Leidensgeschichten verstanden. Worin unterscheidet sich dann der Tod des einen von dem Tod der vielen? Welche Bedeutung hat der Tod Jesu für das millionenfache Leiden und Sterben in dieser Welt? Das ist das Thema dieser Sendung.

 

 

Sie haben gerade einen Ausschnitt aus Benjamin Brittens WAR REQUIEM gehört. Das AGNUS DEI, die Anrufung des Gotteslamms, wird hier mit dem Antikriegsgedicht AT A CALVARY, („Am Kalvarienberg“), konterkariert, welches das Leiden Jesu am Kreuz in direkten Bezug setzt zu demjenigen von Soldaten an der Kriegs-Front. Wilfred Owen, der Autor dieser Zeilen, verarbeitete auf diese Weise seine erschütternden Erlebnisse im Schützengraben des Ersten Weltkrieges, dessen Ende er nicht mehr erleben sollte: Er wurde kurz vor dem Waffenstillstand im November 1918 getötet, nur 25 Jahre alt.

Neun von Owens Antikriegsgedichten, so genannte WAR POEMS, verwendete Benjamin Britten bei der Komposition seiner sehr ungewöhnlichen Totenmesse. Das Werk wurde 1962 zu Einweihung der neuen Kathedrale von Coventry uraufgeführt, 22 Jahre nach der Zerstörung der alten durch deutsche Bomben im November 1940.

Neben dem lateinischen Text der traditionellen Totenmesse wirken die englischen Gedichte wie ein kritischer, aber durchaus theologischer Kommentar. Sie hinterfragen scheinbar sinnlos gewordene Rituale und treten – oft provozierend – in Wechselwirkung mit dem fortlaufenden Requiem.

Die Schreckensvisionen des Jüngsten Gerichts etwa, wie sie in der mittelalterlichen Sequenz DIES IRAE, Tag des Zornes, beschrieben werden, vertont der erklärte Pazifist Britten wie Kriegs-Detonationen. So hört man im folgenden Beispiel nach Wilfred Owens beschwörenden Worten, Gott möge die Kanonen doch endgültig verfluchen und aus unseren Herzen verbannen, eine musikalisch-apokalyptische Explosion: Tag des Zornes, der Himmel und Erde in Asche legt.

 

 

Dies irae, Tag des Zorns, Hölle, Feuer, Strafe, Folter, Vernichtung… Das sind die Themen des traditionellen Requiems. Es ist die katholische Totenmesse, die nach ihrem ersten Wort ihren Namen hat. „Requiem aeternam da eis Domine! Ewige Ruhe gib ihnen, Herr!“ So wird für die Verstorbenen gebetet. Der im Mittelalter entstandene lateinische Text ist eine massive „Drohbotschaft“. Angst vor Tod und Jenseits soll Menschen zu moralischem und religiösem Wohlverhalten nötigen.

Aber in der Bibel ist die Botschaft vom kommenden Richter in erster Linie nicht „Drohbotschaft“, sondern vor allem eine Trostbotschaft. Sie antwortet auf die Frage nach Gottes Gerechtigkeit. Zunächst und vor allem im Blick auf die Opfer. Der kommende Richter ist Jesus, der selber zum Opfer menschlicher Gewalt geworden ist. Das stärkt die Gewissheit, dass auch den Opfern Gerechtigkeit widerfahren wird, bei denen das menschliche Bemühen um irdische Gerechtigkeit versagt hat. Und die Täter werden von diesem Richter nicht grausam bestraft, sondern zur Rechenschaft gezogen, weil sie auf Erden davon gekommen sind. So macht die Hoffnung auf den kommenden Richter Menschen nicht klein, sondern stark. Sie ermutigt sie, nicht nachzulassen in ihrem Kampf, menschliches Leid zu mindern oder zu verhindern und nach Maßgabe menschlicher Möglichkeiten für Recht und Frieden zu sorgen.

 

Benjamin Britten nutzt die Tradition der Totenmesse in genau diesem Sinne, er schafft ein neuartiges Requiem mit einer aktuellen, aufrüttelnden Botschaft, einer Absage an den Krieg, einer Umdeutung des Totengedenkens. Es ist nun nicht mehr gegen andere Völker oder Feinde gerichtet, sondern wird zu einem Appell der Versöhnung.

Exemplarisch für den Versöhnungsaufruf steht der letzte Satz von Brittens Vertonung der Totenmesse:

Libera me, Domine, Befreie mich, Herr, bewahre mich vor dem ewigen Tod an jenem Tag des Schreckens. Die Angst und das Entsetzen der Menschen, wenn Himmel und Erde erbeben („ Quando coeli movendi sunt et terra“), findet hier unmittelbaren Ausdruck. Die Musik ruft uns die Bilder des Blitzkrieges in Coventry vor Augen, jene Nacht im November 1940, in der nicht nur die Kathedrale dem Erdboden gleichgemacht wurde:

 

 

Direkt nach der drastischen Darstellung von Krieg und menschlicher Verzweiflung interpoliert der Komponist das vielleicht beste Gedicht von Wilfred Owens, STRANGE MEETING, eine wirklich „Seltsame Begegnung“, die mit den Worten beginnt: „Es schien, als sei ich aus der Schlacht entkommen in einen tiefen dunklen Tunnel hinab“. Hier wird geschildert, wie sich im Jenseits zwei Soldaten wiederbegegnen, die gestern noch auf dem Schlachtfeld gegeneinander gekämpft haben und nun die Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit des Krieges beklagen.

 

Der Blick ins Jenseits ist weder Drohung noch Vertröstung. Er ist vielmehr ein heilsamer „Szenenwechsel“. Das kennen wir aus unserem Alltag. Wenn zwei Menschen sich streiten und sich in ihrem Streit so verrannt haben, dass sie daraus keinen Ausweg mehr sehen, brauchen sie einen neutralen Dritten, der ihnen hilft, ihre Auseinandersetzung „in neuem Licht zu sehen“ – wie wir bedeutungsvoll sagen. Wenn die Streithähne hören, wie ein Unbeteiligter ihre Auseinandersetzung sieht, bekommen sie vielleicht ein neues Bild von ihr, das ihren eigenen engen Rahmen sprengt. Die neue Sichtweise des anderen relativiert die eigene. Die Horizonterweiterung hilft bei der Suche nach Auswegen aus Sackgassen und verfahrenen Situationen.

Auch in der Bibel dient der Blick ins Jenseits dazu, Ausweglosigkeit im Diesseits zu überwinden und Lösungen für ungelöste Probleme im Diesseits zu finden. „Im Licht der Ewigkeit“ sieht die Welt im Diesseits anders aus. Der himmlische Richter hat in der Bibel die Züge des Gekreuzigten, der selber zum Opfer geworden ist. Er vernichtet nicht die Täter, sondern konfrontiert sie mit deren Opfern. Diese in den Himmel projizierte Begegnung zwischen Opfer und Täter soll die Täter im Diesseits zu Reue und Umkehr bewegen.

So verstehe ich Wilfred Owens fiktiven Blick ins Jenseits. Er relativiert die Feindschaft zweier Völker, die so viele junge Männer sinnlos abschlachtet. Sein Blick ins Jenseits soll dazu dienen, zukünftige Kriege im Diesseits zu vermeiden und stattdessen alternative Konfliktlösungen zu finden.

 

Am Ende von Wilfred Owens Gedicht heißt es:

Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund, ich erkannte dich in dieser Dunkelheit; denn so böse hast du gestern durch mich hindurch gesehen, als du gestochen und getötet hast. Ich wehrte mich, aber meine Hände waren unwillig und kalt. So lass uns nun friedlich schlafen, Let us sleep now.

 

 

Der reine Klang von Kinderstimmen wird auch vorher an zentralen Stellen des War Requiems eingesetzt, sie stehen für die in den Weltkriegen unschuldig geopferte Jugend, deren gnadenloses Abschlachten Wilfred Owen in seinen War Poems immer wieder beklagt.

So auch in dem Gedicht THE PARABLE OF THE OLD MAN AND THE YOUNG, der Geschichte vom alten Mann und dem Jungen. Sie deutet die biblische Erzählung von Abraham und Isaak radikal um.

In der Bibel entwindet ein Engel Gottes Abraham das Messer, mit dem er bereit ist, seinen Sohn zu schlachten wie ein Opfertier. In der biblischen Geschichte ist die Botschaft ein göttliches Nein zu jeder Form von Menschenopfern. In Owens Version aber hört der alte Mann nicht auf den Engel und opfert seinen Sohn – und mit ihm die halbe Jugend Europas, einen nach dem anderen.

 

 

Im Neuen Testament wird die Überlieferung von Abraham und Isaak benutzt, um den Tod Jesu zu deuten. „Gott hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben“, heißt es da (Römer 8,32).

Wir sehen in Vater und Sohn zwei Individuen. Das ist moderne Denkweise. In der Antike galten die Söhne als die Zukunft der Väter. Vater und Sohn waren in dieser Vorstellung eins. Wenn ein Vater seinen Sohn nicht verschont, dann schont er damit nicht sich selbst. Er gibt sich vielmehr selber hin, und zwar radikal, sich und seine Zukunft. So deutet das Neue Testament den Tod Jesu. Er ist Gottes radikale Selbsthingabe. Gott opfert sich selbst, weil er keine menschlichen Opfer haben will. Gott verzichtet am Karfreitag auf seine göttliche Macht und gibt sich in die Hände mörderischer Menschen.

Indem Gott sich mit Jesus, dem Opfer menschlicher Gewalt, identifiziert, verbietet er mit Entschiedenheit, andere Menschen zu opfern, so dass man folgern kann: Gott will keine Opfer – nicht in Kriegen, nicht in Wirtschaftssystemen, nicht im Straßenverkehr.

Jesus, dieses Opfer menschlicher Gewalt, wird nicht im Tod bleiben. Indem Gott den Gekreuzigten aufrichtet in ein neues Leben, stellt er sich an seine Seite. Gott rehabilitiert den zu Unrecht Getöteten. So erweist Gott sich als der, der Gerechtigkeit will und Recht aufrichtet. Er solidarisiert sich, ja identifiziert sich mit dem Opfer. Das unterscheidet den einen von allen anderen.

An dem einen wird ein Exempel statuiert. Ein Exempel der Gerechtigkeit. Nicht Unrecht und Leiden ist Gottes Wille, sondern Recht und Gerechtigkeit. Daran sollen wir Christen unser Glauben und Hoffen und Tun ausrichten.

Das alles bedeutet: Jesus hat kein Requiem nötig. Aber für die Millionen anderer sind Totengebete sehr nötig. Nicht um sie vor vor Höllenqualen im Jenseits zu bewahren. Wohl aber um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Weil wir hoffen, dass Gott an ihnen tut, was er an Jesus getan hat, beten wir für sie.

Heuchlerisch wären solche Gebete, wenn ihnen nicht Taten folgten. Für die Toten können wir nichts weiter tun, als ihrer vor Gott und Menschen zu gedenken. Aber das soll so geschehen, dass wir die Lebenden mahnen. Uns selbst und die anderen. Wir können dem Morden widerstehen, indem wir weit im Voraus die Feindbilder zerstören. Wir können zukünftige Kriege verhindern, indem wir Gewaltfreiheit einüben und friedliche Konfliktlösungen trainieren. Wir können die Macht des Volkes nutzen, um den von uns Gewählten auf die Finger zu schauen und ihnen von Zeit zu Zeit den Kopf zurecht zu setzen.

 

 

Sie hörten, anknüpfend an den Beginn dieser Sendung, die dritte Anrufung des Gotteslammes, der wiederum Zeilen aus dem Wilfried-Owen-Gedicht „Am Kalvarienberg“ vorangestellt sind:

Doch jene, welche die größere Liebe leben, legen ihr Leben ab, sie hassen nicht.

Es ist folgerichtig, geradezu zwingend, dass Benjamin Britten danach den liturgischen Text abwandelt und nun aus dem Requiem aeternam, aus der Bitte um Ewige Ruhe, die Bitte um Frieden macht: Dona nobis Pacem! Das bedeutet eine Rückkehr zum Missa-Text, eine Brücke von der Vergangenheit und den Toten – hin zu den Lebenden.

 

Damit führt Britten das Agnus Dei in seinem War Requiem von der mittelalterlichen Tradition zurück zu den biblischen Wurzeln. In der Bibel ist Jesus nicht primär das Opferlamm, das als Sühnopfer für die Sünden der Menschen sterben muss, sondern vor allem ein Mensch von Millionen Menschen, die wie Lämmer wehrlos abgeschlachtet werden. Indem Gott sich mit diesem identifiziert, wird es zum Lamm Gottes. Es trägt nicht „die Sünden“ – im Plural – sondern „die Sünde“ – im Singular. Und die Sünde ist in der Bibel die Macht des Bösen, die Menschen millionenfach erleiden.

Darum ist der Blick auf den Gekreuzigten für leidende Menschen oft so tröstlich. „Der leidende Jesus weiß, wie mir zumute ist“, sagte mir einst als jungem unerfahrenem Pastor eine sterbende Frau. Auf dem Weg ins Krankenhaus hatte ich vergeblich nach einem Trost für sie gesucht. Nun tröstete sie mich, den Blick fest auf den Kruzifixus gerichtet, der über ihrem Sterbebett hing „Der leidende Jesus weiß, wie mir zumute ist“.

 

Mit dem Ruf „Lamm Gottes, erbarm dich unser!“ bringt die zum Heiligen Mahl versammelte Gemeinde das Leiden der Welt in ihren Gottesdienst. Sie bittet darum, dass Gott sich aller erbarme, die heute wie Lämmer abgeschlachtet werden, wie er sich Jesus erbarmt hat. Nicht nur um den kleinen Frieden eines guten Gewissens bittet sie, sondern um den großen Frieden für die ganze Welt, damit die Welt werde, wie sie sein soll. „Dona nobis pacem“. Gib uns Frieden!

 

 

Die versöhnende Botschaft von Brittens WAR REQUIEM ist auch mehr als 50 Jahre nach der Uraufführung aktuell. Deshalb wird sie im Rahmen eines internationalen Projektes nach Ostern von Menschen aus ganz Europa musiziert, angeführt vom Bundesjugendorchester und vom Bach-Verein Köln, u.a. am 6. April 2018 in der Kölner Philharmonie und am 10. April 2018 in der Berliner Philharmonie.

 

 

 

Musik dieser Sendung:

Benjamin Britten, The Collector’s Edition, CD 15 u. 16, War Requiem, City of Birmingham Orchestra, Simon Rattle

25.01.2018
Rainer Stuhlmann, Thomas Neuhoff