Gelassen sein

Feiertag
Gelassen sein
aber bitte richtig
03.07.2016 - 07:05
04.07.2016
Pfarrer Stephan Krebs

Über die Sendung

Der Autor beschreibt verschiedene Wege zur Gelassenheit. Und er findet seinen eigenen. Er orientiert sich nicht nur an der Botschaft Jesu, sondern auch an den Botschaften einiger berühmter Popsongs des letzten Jahrhunderts.

 

Sendung zum Nachhören

Gelassenheit – die wünschen sich viele. Gerade jetzt, wo die Welt so kompliziert geworden ist. Wo sich andere eine Menge Sorgen machen, bleibt man selbst entspannt und zuversichtlich. Gelassen-Sein – das ist ein gutes Gefühl. Und noch mehr. Es ist eine innere Haltung. Für mich als Christ ist es nur ein anderes Wort für Gottvertrauen.

Über Gottvertrauen und Gelassenheit spricht Jesus in seiner berühmten Bergpredigt. An diesen Berg sind viele Menschen gekommen, um ihn zu hören. Er sieht sie vor sich – viele erwartungsvolle Augenpaare. Umrahmt von Sorgenfalten. Er sieht ihre rissigen Hände, gezeichnet von harter Arbeit. Er sieht ihre Schultern, die zu viel tragen müssen. Gerne würden sie etwas davon sein-lassen, aus-lassen – und gelassen sein. Jesus ermuntert sie dazu:

 

„Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“

 

Das sind wohltuende Worte. Zu ihnen passt das bekannte Lied des Jazz-Musikers Louis Armstrong: „What a wonderful World“ – Was für eine wunderbare Welt. Und es klingt, als wollte der Sänger damit Jesu Worte musikalisch unterstreichen.

 

„Ich sehe den blauen Himmel und weiße Wolken, den vom Licht gesegneten Tag und die dunkle, heilige Nacht. Und ich denke mir: was für eine wunderbare Welt! Die Farben des Regenbogens, so hübsch am Himmel, finden sich auch in den Gesichtern der vorbeigehenden Leute. Ich sehe Freunde, die sich die Hände schütteln. Sie sagen: „Na, wie geht’s?“ Eigentlich sagen sie: „Ich liebe dich.“ Ich höre Babys schreien, sehe, wie sie aufwachsen. Sie werden mehr lernen, als ich je gewusst habe. Und ich denke mir: Was für eine wunderbare Welt! Ja, ich denke mir: Was für eine wunderbare Welt!“

 

Behutsam und liebevoll schaut Louis Armstrong auf die Schönheiten der Welt. Das Lied ist wie eine Einladung: Entspann dich! Sieh das Leben gelassen! So vieles wird gut. Gerne möchte ich mich davon anstecken lassen. Aber ehrlich gesagt: Das hält bei mir nie lange an. Schnell melden sich Einwände. Das Lied beschreibt ja nur das romantische Sommermärchen des Lebens – aber der nächste Winter kommt bestimmt. Und wehe dem, der dafür nicht gesorgt hat! Zur ganzen Realität gehört eben auch, dass man um sein Leben kämpfen muss. Es gibt also gute Gründe, nicht gelassen zu sein. Umso größer ist deshalb die Sehnsucht nach Gelassenheit. Machen wir uns also auf die Suche nach ihr. Begleiten wir drei Menschen auf ihrem Weg dorthin.

 

Auf dem ersten Weg treffen wir Corinna. Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern und halbtags berufstätig. Der Tagesplan ist eng getaktet – und meist stressig. Da darf möglichst nichts schief gehen. Tut es aber. Manchmal sind es nur kleine Dinge. Zum Beispiel früh am Morgen. Gerade will Corinna ihre Kinder in die Kita bringen und dann schnell ins Büro fahren. Alle drei stehen schon vor der Haustür, komplett angezogen. Da muss die Kleine dringend aufs Klo. Also: Alle wieder rein. Bei der Kleinen die Klamotten runter und rauf auf die Toilette – schnell, schnell. Doch die Tochter ist nicht schnell. Am Ende muss sie gar nicht. Corinna könnte ausrasten. Doch plötzlich wird sie ganz ruhig und gelassen. Sie lächelt ihre Hektik einfach weg. Und summt dabei ein Lied vor sich hin: „Don´t worry, be happy“ – Mach dir keine Sorgen, sei einfach fröhlich. Das Lied stammt von dem Stimmakrobaten Bobby McFerrin.

 

„Hier ist ein kleines Lied, das ich geschrieben habe. Du willst es vielleicht Note für Note singen: Mach dir keine Sorgen, sei fröhlich. In jedem Leben gibt es einigen Ärger. Aber wenn du dich aufregst, verdoppelst du ihn. Mach dir keine Sorgen, sei fröhlich, sei jetzt fröhlich. Du hast du keinen Platz, um deinen Kopf niederzulegen, jemand ist gekommen und hat dein Bett genommen. Mach dir keine Sorgen, sei fröhlich. Dein Vermieter sagt, die Miete ist überfällig. Er müsse dich eventuell anklagen. Mach dir keine Sorgen, sei fröhlich. Sieh mich an, ich bin glücklich. Mach dir keine Sorgen, sei fröhlich. Hey, ich gebe dir meine Telefonnummer. Wenn du dich fürchtest, ruf mich an. Ich mach dich fröhlich. Du hast kein Geld. Du hast keinen Stil. Du hat kein Mädchen das dich zum Lächeln bringen könnte. Aber mach dir keine Sorgen, sei fröhlich. Denn, wenn du dir Sorgen machst, wirst du ein miesepetriges Gesicht haben. Und das wird alle runter ziehen. Mach dir keine Sorgen, sei fröhlich.“

 

Don´t worrry, be happy – immer wieder und fast beschwörend singt Bobby McFerrin diese Worte. Ob er diesen Song wirklich ernst meint? Das weiß ich gar nicht. Jedenfalls wirkt er. Für ein paar Minuten verbreitet er gute Laune, zaubert ein Lächeln auf die Gesichter, atmet Gelassenheit. Immerhin das. Bobbie McFerrin leugnet nicht, dass es Probleme gibt. Aber die werden doppelt so schlimm, wenn man sich darüber auch noch viele Sorgen macht, findet der Sänger. Deshalb empfiehlt er: einfach nicht zu ernst nehmen! Nach dem Motto: „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schonen Stunden nur.“ Dieser Satz steht in Corinnas altem Poesiealbum. Er lädt dazu ein, sich auf die sonnige Seite des Lebens zu konzentrieren und die Schattenseiten stillschweigend in Kauf zu nehmen. Das mag Corinna helfen, zum Beispiel wenn sie gegen den Stress am Morgen kämpft. Doch gibt es auch Situationen, die kann man nicht so einfach aussitzen, denn dann werden sie immer schlimmer. Außerdem: Wer nur die Sonnenstunden zählt, dem fehlt ein großer und wichtiger Teil des Lebens: Die Zeiten im Schatten, im Sturm und in der Nacht. Der Weg des Weglächelns ist also nicht immer der richtige. Gut, dass es noch weitere Wege zur Gelassenheit gibt.

 

Einer davon führt uns zu Helmut, einem impulsiven Menschen, der sich viel zu Herzen nimmt. Er lacht gern und er ärgert sich schnell und heftig. Er ist Chef in einem kleinen Unternehmen mit 36 Beschäftigten. Helmut macht sich viele Sorgen und er arbeitet viel. Die Tage im Büro sind hektisch, die Nächte voller Gedanken. Er sehnt sich danach gelassener zu werden und entdeckt dabei die stoische Ruhe. Stoische Ruhe – dieser Begriff entstammt der antiken griechischen Philosophenschule der Stoiker. Sie befreiten sich so weit wie möglich von äußeren Zwängen und inneren Ängsten. Nichts sollte sie mehr aus der Ruhe bringen. Ihr Ziel: Unerschütterliche Gelassenheit durch innere Distanz zu allem, sogar zu sich selbst.

 

Doch Helmut muss aufpassen. Den Gemütszustand, den die Stoiker in der Antike anstrebten, nannten sie selbst Apathie. Das war ihr Begriff für Gelassenheit.

Heute offenbart dieser Begriff zugleich die Gefahr der stoischen Ruhe. Denn heute steht Apathie eher für einen Mangel an Energie, an Mitgefühl und an Lebensfreude.

 

Unser dritter Weg zur Gelassenheit führt genau in die andere Richtung: mitten hinein in das pralle Leben. Und zu Beate, einer quirligen und ehrgeizigen Frau. Wenn sie hinter dem Steuer sitzt, fahren die Autos vor ihr meistens viel zu langsam und die hinter ihr deutlich zu schnell. Das stellt sie täglich lautstark fest – verärgert und unruhig.

Entspannen kann sie erst, wenn alles getan ist. Doch das ist leider so gut wie nie der Fall. So täte ihr schon im Normalfall etwas mehr Gelassenheit gut. Aber jetzt ist noch etwas dazu gekommen. Sie nimmt aufmerksam wahr, was auf der Welt los ist. Und es ist viel los, zu viel Krieg, Leid und Zerstörung. Beate sorgt sich um die Opfer. Erschüttert spürt sie den Hass, den manche gegen Fremde und Flüchtlinge empfinden. Beate sorgt sich auch um Deutschland. Sie fürchtet, ihr Land könnte darüber seine Seele verlieren, seine menschlichen Werte. Beate engagiert sich ehrenamtlich. Sie tut, was sie kann und erlebt schöne Momente, in den sie helfen kann. Aber ganz vielen kann sie nicht helfen.

 

Findet sie einen Weg damit gelassen umzugehen? Vielleicht mit Hilfe einer uralten Weisheit, die sie in der Bibel findet. Im Buch des Predigers Salomo. Der ist offenbar ein lebenserfahrener und abgeklärter Mann. Er schaut auf die Welt mit all ihrer Liebe und ihrem Hass, mit all ihrer Ruhe und ihrer Hast. All das, so denkt der Prediger, muss wohl so sein. Es hat seinen Platz und seine Zeit. Der Prediger Salomo folgert daraus: Füge dich in dein Schicksal, du kannst es sowieso nicht ändern. „Alles hat seine Zeit“ – über diesen berühmten biblischen Text hat die Popgruppe The Byrds einen Song gemacht: „Turn, Turn, Turn“.

 

„Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten und heilen hat seine Zeit; weinen und lachen hat seine Zeit. Bauen und abbrechen hat seine Zeit, tanzen und klagen hat seine Zeit, Steine wegwerfen und Steine sammeln hat seine Zeit. Lieben und hassen hat seine Zeit; Streit und Frieden hat seine Zeit. Herzen und aufhören zu herzen hat seine Zeit. Suchen und verlieren hat seine Zeit; behalten und wegwerfen hat seine Zeit. Zerreißen und Zunähen hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit.“

 

In diesem Song zitieren die Byrds wörtlich die Bibel. Die Verse des Predigers Salomo verströmen eine ganz eigene Gelassenheit. Sie lädt Menschen wie die engagierte Beate ein, den Dingen des Lebens die Zeit zu lassen, die sie brauchen. Auf der Straße, im Büro und in der großen Politik. Manches lässt sich einfach nicht beschleunigen, so sehr man sich auch abmüht. Es stimmt: Vieles hat seine Zeit. Aber stimmt das wirklich für alles?

 

In den Versen des Predigers Salomo liegt eine beinah depressive Gelassenheit, die nichts erwartet und nichts erhofft. So mag man entspannt denken, wenn man für sich selbst ein behagliches Fleckchen gefunden hat. Aber was ist mit den Anderen? Was ist mit denen, die unter Streit und Krieg leiden? Müssen sie sich wirklich damit abfinden, dass Hassen und Töten nun mal genauso zum Leben dazu gehören wie Lieben und Heilen? Beate kann sich damit jedenfalls nicht abfinden. Die Byrds offenbar auch nicht. Zwar zitieren sie die Bibelverse unverändert. Aber im Refrain ergänzen sie jeweils dreimal das Wörtchen Turn, also Drehen, Verändern, Umkehren. Mir kommt dieses Wörtchen Turn vor wie eine Frage: Wo bleibt die Umkehr? Wo bleibt der Aufstand gegen das Leid? Wo bleibt das Ringen um eine bessere Welt? Das verstärken die Byrds noch einmal. Der letzte Satz ihres Liedes lautet: „Ich schwöre: Es ist noch nicht zu spät.“ Das spricht mir aus dem Herzen. Denn ehrlich gesagt: In den Worten des Predigers Salomo fehlt mir die Hoffnung. Stattdessen finde ich zu viel Schicksalsergebenheit. Zu viel von dem Satz: „Da kann man ja doch nichts machen.“ Dieser Stoßseufzer mag oft stimmen. Aber er kann auch eine zweifelhafte Selbstentlastung sein. Man kann auch an der falschen Stelle gelassen sein.

 

Wann und wo kämpfe ich für ein besseres Leben? Wann und wo nehme ich das Leben hin, wie es ist? Das ist, wenn es um die richtige Gelassenheit geht, eine wichtige Frage. Über sie haben die Beatles 1967, im Jahr der Studentenrevolte, einen Song gemacht. Er ist über die Jahrzehnte zum Pop-Hymnus der Gelassenheit geworden: „Let it be“ – Lass es geschehen. Bei flüchtigem Hören klingt dieser kleine Satz in dem Song immer gleich. Doch bei genauerem Hinhören merkt man: er verändert im Verlauf des Liedes seine Bedeutung. Am Anfang meint „Let it be“ so viel wie: Nimm an was geschieht. Im weiteren Verlauf wird daraus ein kämpferisches: „Mach, dass es geschieht!“ – Lass es wahr werden!

 

„Wenn ich mich in sorgenvollen Zeiten wiederfinde, kommt Mutter Maria zu mir. Sie spricht Worte der Weisheit: Lass es geschehen. Und in meiner Stunde der Dunkelheit steht sie mir direkt gegenüber und spricht Worte der Weisheit: Lass es geschehen. Nimm es an. Lass es gut sein. Und wenn all die Leute mit einem gebrochenen Herzen, die in der Welt leben, zustimmen, dann wird es eine Antwort geben: Lass es wahr werden! Für diejenigen, die voneinander getrennt sind, gibt es immer noch eine Chance zu sehen, dass es eine Antwort geben wird: Lass es wahr werden! Und auch wenn die Nacht bewölkt ist. gibt es immer noch ein Licht, das auf mich scheint. Es scheint bis zum Morgen: Lass es geschehen.“

 

Drei Menschen auf drei Wegen zur Gelassenheit haben wir kennengelernt:

Die erste war die Mutter Corinna, die mit dem Sänger Bobby McFerrin versuchte vieles wegzulächeln. Der zweite war der Unternehmer Helmut, der versuchte mit stoischer Ruhe die Sorgen auf Abstand zu halten. Die dritte war die Aktivistin Beate, die mit den Worten des Predigers Salomo um die Unvermeidlichkeit des Schicksals rang.

 

Ihnen allen fehlt etwas, finde ich. Etwas von dem, das Jesus in seinem Leben anders machte. Er hat nicht versucht, möglichst ruhig und heiter zu sein. Im Gegenteil: Er hat sich aufgeregt, wenn Leute scheinheilig und lieblos waren. Er hat sich angelegt mit den Mächtigen des Staates und mit den religiösen Hütern des Tempels. Energisch hat er seine Anhänger und Zuhörerinnen aufgefordert, umzukehren, also anders zu leben, und Gott wieder fest in den Blick zu nehmen. Dafür hat er am Ende sogar sein Leben riskiert. Als er am Kreuz hängt, sterbend, da schreit er den Anfang des Psalm 22 heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ So überliefert es der Evangelist Markus. Er bezeugt damit, dass Jesus in diesem Moment vollkommen verzweifelt war, scheinbar weit weg von jeder Gelassenheit. Aber selbst in dieser verzweifelten Situation wendet er sich an Gott und erwartet von ihm etwas. Nicht einmal die tiefste Gottesferne kann Jesu geistliche Gelassenheit außer Kraft setzen. Für ihn ist Gelassenheit offenbar kein Zustand, den er sich selbst schaffen will, sondern etwas, dass er von Gott erwartet. Am Ende spricht Jesus am Kreuz, so berichtet es der Evangelist Lukas: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Mit diesen Worten lässt sich Jesus in sein unerschütterliches Gottvertrauen fallen – mehr Gelassenheit geht nicht. In dieser Gelassenheit steckt die Kraft zum Protest. Und die Kraft zur Geduld. Und die Hingabe in Gottes Tun. Lass es geschehen! Let it be.

04.07.2016
Pfarrer Stephan Krebs