Integration durch Singen

Integration durch Singen

gemeinfrei via unsplash.com/David Beale

Integration durch Singen
Der ökumenische Knabenchor CIS in Stuttgart
15.12.2019 - 07:05
13.06.2019
Lucie Panzer und Wolf-Dieter Steinmann
Über die Sendung:

Es gibt viel zu lernen: sich in die Gemeinschaft einzubringen; dass es immer schöner
klingt, wenn man auf die anderen hört; und dass die Freude an der Musik verbindet
über Grenzen hinweg.

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Sendung nachlesen:

Im Advent und zu Weihnachten wird mehr gesungen als sonst im Jahr. Die bekannten Lieder laden zum Mitsingen ein, rühren einem das Herz. Erst recht, wenn Kinder singen. Einen noch jungen Knabenchor aus Stuttgart will ich Ihnen heute Morgen vorstellen und natürlich habe ich die Advents- und Weihnachtsmusik der Jungs mitgebracht.

 

 

Das war der Stuttgarter Knabenchor CIS, Collegium Iuvenum Stuttgart. Seit 30 Jahren besteht dieser Chor, inzwischen ist er weit über die Stadt hinaus bekannt. CIS ist ein Chor in freier Trägerschaft, Jungen und Männer in den verschiedenen Chorstufen. In der Hauptsache singen sie geistliche Musik.

Ich habe die Jungs Ende November bei den Proben besucht und gefragt: Warum macht ihr das? Julian und Jonathan, zwei der Jüngsten, waren sich ganz einig:

„Ich mag halt die Lieder. Zum Beispiel „Jauchzet frohlocket!“ ist so schön fröhlich!“

 

Gern singen, weil es fröhlich klingt und fröhlich macht. So klingt das dann, wenn der Chor wie jedes Jahr an Weihnachten im Gottesdienst das Weihnachtsoratorium singt.

 

 

Vorher müssen die Jungs natürlich proben. In der Regel treffen sie sich zweimal in der Woche, jeweils für 90 Minuten. Fröhlich geht es zu in den Pausen, wenn sie im Innenhof Fußball spielen oder bei schlechtem Wetter Tischtennis. Aber auch in den Proben selbst herrscht eine konzentrierte Fröhlichkeit.

 

 

Insgesamt sind etwa 200 Knaben und Männer im Collegium Iuvenum, von den ganz Kleinen 4- und 5- jährigen bis zu den Männern, die Tenor und Bass singen. Die Sänger proben in verschiedenen Altersgruppen und haben Spaß dabei. Sie geben Konzerte in ganz Deutschland und machen Konzertreisen ins Ausland. Und sie singen in Gottesdiensten, in katholischen und evangelischen. CIS versteht sich ausdrücklich als überkonfessioneller Chor. Anscheinend überstrahlt die Freude an der Musik auch, dass sie oft sonntags früh aufstehen müssen:

„Wir müssen immer um 9 in der Einsingprobe sein, dann singen wir uns ein und dann um 10 geht der Gottesdienst los; wenn ne Rede ist, dann ist mir langweilig.“

 

Für Gauthier kommt diese besondere Erfahrung hinzu, miteinander den wunderbaren Knabenchorklang zu erzeugen.

„Ja der Klang und oh ja, auch die Gemeinschaft ist auch gut, mit anderen Leuten, die man davor nicht kannte, zu singen, das macht mir viel Spaß.“

 

Die Texte der klassischen alten Lieder sind oft ziemlich fremd, eine Herausforderung für den Chorleiter, sie auch schon den ganz jungen nahe zu bringen.

„Es können halt manche aus unserem Chor Latein und das singen wir halt auch oft und ich verstehe da eigentlich fast gar nichts. Unser Dirigent, der Herr Culo, der versucht uns das schon beizubringen.“

 

Michael Culo, dem Chorleiter, ist es ganz wichtig, dass die Jungen verstehen, was sie singen, nicht nur, aber besonders auch im Advent und zu Weihnachten.

„Für mich ist Advent … auch über diese Vorbereitungstexte nachzudenken; Magnifikat, …ist für mich so‘n Kerntext; ich erinnere mich noch gut, ich hatte mal eine Probe, da haben wir von Schütz ein Magnifikat geprobt, „er übet Gewalt mit seinem Arm“, das war mir einfach zu brav, zu lieblich, und ich bin wirklich furchtbar in Rage geraten und habe gesagt ‚das ist ein Revolutionstext Jungs‘, ihr könnt doch nicht einfach nur so Trallala vor euch hinsingen, da geht’s wirklich um Essentielles, da wird eine Weltordnung auf den Kopf gestellt, jetzt wacht doch mal auf. Es ist ne Zeit, die an uns auch rüttelt. Es ist eben nicht nur ne Besinnungszeit, sondern im Grunde eine Aufwachzeit. Es passiert irgendwas Gravierendes.“

 

 

Obwohl Cis nicht wie die berühmten Knabenchöre in Leipzig oder Dresden mit einem Internat verbunden ist, ist die gemeinsame Arbeit doch wie in einer Schule aufgebaut, wie eine Chorschule eben. Es fängt mit dem Eltern-Kind-Singen an, bei dem schon 2- und 3-jährige mitmachen können. Mit 5 oder 6 Jahren kommt dann der A-plus-Chor, da singen die Jungs unterhaltsame Lieder, „Spaßlieder“ nennt sie der Chorleiter, Weihnachtslieder natürlich auch, die werden dann bei der internen Weihnachtsfeier vorgesungen. Dazu braucht es keine großen Voraussetzungen außer der Freude am Singen:

„Ich sag immer beim Eingangsgespräch, wenn die sich vorstellen, dass die Stimme lange Töne, kurze Töne, hohe Töne, tiefe Töne, laute Töne, leise Töne mühelos produzieren können muss.

Ich frage im Aufnahmegespräch: „Singst du gern“ und wenn der Junge sagt – “Ja“, dann ist gut; … Wenn es sagt „Nein“, dann bohre ich son bisschen nach, „Aber wir sind ja ein Chor, weißt du, was ein Chor macht“ und wenn er sagt „Ja, singen“ dann frage ich: wie kommst du denn zu uns?“ – „Ja, meine Mama hat gesagt.“ Für mich ist interessant eigentlich nur eines: dass der Junge einen Zugang zum Singen hat.“

 

Mit ungefähr 6 Jahren kommen die Jungs in den A-Chor, da proben sie dann zweimal in der Woche und kriegen zum ersten Mal Stimmbildung, parallel zu den Chorstunden, für jeweils eine Viertel Stunde in der Woche. Und bevor sie in den Konzert- und Reisechor kommen findet eine wichtige Sache statt:

„Dann singen die mir ein Lied vor, das finde ich auch ganz wichtig, weil die sollen ein Standing bekommen, die sollen als Persönlichkeit da vorkommen, die sollen merken, wenn ich da allein stehe vor diesem Chorleiter, mit dem ich sonst arbeite, dann kann ich mich da auch behaupten. Wenn er das bei mir kann, dann kann er das in der Welt auch später mal, die lernen viel für ihre persönliche Reife dann.“

 

Ein tiefer Einschnitt für Jungen ist – erst recht im Chor – der Stimmwechsel. Michael Culo ist sich bewusst: eine Chorschule ist da besonders verantwortlich, sich um die jungen Männer zu kümmern:

„Dann kommen die auch zu Männerstimmbildnern, weil die auch nochmal Ansprache von jemandem brauchen, der das auch emotional versteht wie das ist, wenn sich der Körper verändert, die Stimme, wenn dann plötzlich alles sich verändert“

 

Die Männer werden im Chor dann auch als Betreuer eingesetzt, vor allem unterwegs auf Reisen. Da gibt es zum Beispiel spezielle Heimweh-Männer, die gerufen werden und sich kümmern können, wenn von den Kleinen einer Heimweh kriegt. Aus der Chorschule wird so mit der Zeit eine richtige Chor-Familie und die erwachsenen Männer bleiben oft noch lange dabei. Sie nennen sich CISterne, treffen sich jedes Jahr zu einer Probenfreizeit und geben ein Konzert, einfach, weil es ihnen Freude macht, gemeinsam zu singen.

 

 

Gemeinsam bewältigen die Jungen ein ganz ordentliches Pensum: 2018 waren es zum Beispiel 17 Gottesdienste, 25 Konzerte, 11 weitere Anlässe, bei denen 184 verschiedene Lieder und Werke aufgeführt wurden. Das geht nur, wenn das Ganze den Jungen wirklich Spaß macht. Dazu gibt es Ausflüge, Chorwochenenden und eine große Chorfreizeit in den Sommerferien.

Immer dabei Christina Bernbeck, die Chororganisatorin. Bei ihr gehen die Anfragen ein, sie ist die erste Ansprechpartnerin, wenn ein Kind mitsingen möchte und sie hält den Kontakt zu den Eltern. Die gelernte Krankenschwester kümmert sich, wenn unterwegs einer krank wird. Sie sorgt dafür, dass die Konzertkleidung in Ordnung ist, dass die weißen Hemden ordentlich in der Hose stecken und dass oben der Kragen auf beiden Seiten über dem Pullover liegt. Und wenn die Jungs wieder ein Stück gewachsen sind, dann sorgt sie dafür, dass es eine neue Hose gibt und einen neuen Chorpullover. Christina Bernbeck war zum Beispiel auch mit dabei auf der Konzertreise zum 30-jährigen Bestehen des Chors in diesem Jahr nach Argentinien:

„In Argentinien hatten wir eine sehr schöne Zeit mit einem Schülerorchester aus wirklich sehr einfachen Familien, das war ein sehr schönes Projekt: zu erleben, dass Musik auf verschiedenem Bildungsstand und mit verschiedenen Lebenssituationen so verbinden kann, was sie ja eigentlich immer hier im Chor erleben, aber was sie dann noch mal, länderübergreifend und sprachübergreifend mitnehmen können … letztendlich auch der Luxus, den sie hier haben und den sie da gemerkt haben, ein Musikinstrument. mehr brauchts in dem Moment nicht oder ihre eigene Stimme halt; … das haben wir wirklich als Höhepunkt mitgenommen.“

 

Der Chor war in den letzten Jahren unter anderem in New York, in der Schweiz und in Mitteldeutschland. Dabei lernen die Jungen Menschen kennen, Kinder natürlich auch, die in ganz verschiedenen Verhältnissen leben. Die Sänger wohnen auf ihren Reisen in Familien, in denen meistens auch musiziert wird. Und sie erleben über alle Grenzen hinweg: Die Freude an der Musik verbindet, auch wenn es sonst manchmal schwierig ist, sich zu verständigen. Gauthier erzählt:

„Ich war schon in Argentinien und Schweiz; wir waren in manchen Familien, die deutsch sprechen konnten, das war manchmal recht entspannt, manchmal recht stressig, wenn man mit denen englisch sprechen musste und meistens es nicht so richtig drauf hatte. Und sonst ging das.“

 

Aber natürlich, sie sehen auch etwas von den Ländern: Die Iguazu-Wasserfälle in Argentinien haben Gauthier besonders beeindruckt, aber auch von Museen hat er erzählt. Und manchmal erleben sie auch ein richtiges Abenteuer. In New York vor zwei Jahren zum Beispiel:

„Da sind die Koffer nicht angekommen, die mussten komplett neu eingekleidet werden, die hatten überhaupt nichts; das war ne reine Abenteuerreise, dann ist ein Flug gestrichen worden, dann haben sie ne Nacht auf dem Flughafen verbracht… aber irgendwie haben es alle als Abenteuer verbucht; die kamen zurück mit einer großen Tüte voller Erzählungen.“

 

 

Die Familien, deren Kinder im Chor singen, sind hauptsächlich christlich oder religionslos, erzählt der Chorleiter, Michael Culo. Aber es waren auch schon Juden dabei, Muslime und Orthodoxe. Die Jungs haben auch verschiedene Nationalitäten, einer ist aus Äthiopien und wurde von Stuttgarter Eltern adoptiert, zwei Männer bei den CISternen sind aus Eriträa, es gibt Ukrainer und Russen im Chor, Inder, Chinesen und Japaner. Michael Culos Eltern sind Kroaten. Er ist 1980 in Bietigheim-Bissingen bei Stuttgart geboren. Dort hat auch er selbst im Knabenchor gesungen und das hat ihn als Person geprägt.

„Was ich dort erlebt habe ist, dass es schön ist, dass es einem Erfüllung gibt, wenn man eine Verantwortung hat, die gerne übernimmt und sie auch ausfüllt und erfüllt; ... wir waren wichtig und wir waren gebraucht und wir haben diese Wertschätzung erlebt.“

 

Wenn ich etwas mache, dann versuche ich es richtig zu machen mit vollem Herzen und nicht nur halbherzig. Das hat er in seiner Kindheit in diesem Chor gelernt und dieses Engagement „aus vollem Herzen“, das kann man auch heute noch spüren, wenn er von seinen Jungs erzählt. Ein Konzert hat ihn ganz besonders beeindruckt:

„Wir haben letztes Jahr zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Synagoge gesungen, ich empfinde das eben, dass wir ein Chor in freier Trägerschaft sind, auch als große Chance, eben auch solche besonderen Momente mitzugestalten.“

 

In der Stuttgarter Zeitung konnte man über diesen Auftritt lesen: „Die Knaben und Männer sangen (Lieder), geschrieben in einer Sprache, die ihnen völlig unbekannt ist; und doch klang es, als ob jeder Ton, jedes Wort tief aus ihrem Herzen käme. Und so nähren die wunderbaren jungen Sänger die Hoffnung, dass in unserm Land nie wieder Synagogen brennen und Menschen wegen ihres Glaubens oder ihrer Gesinnung verfolgt und vernichtet werden.“ Genau das will der Chorleiter mit solchen Auftritten erreichen, nicht nur in der Synagoge, sondern auch beim Benefizkonzert für das Stuttgarter Hospiz St. Martin und bei den Konzerten in der Stuttgarter Kinderklinik.

 

„Ich sage dann, auf euern Schultern ruhts, oder ihr nehmt es mit, ihr seid die Zukunft ihr habt diese Berührungspunkte bekommen; nutzt das für euch und macht das fruchtbar, ihr seid die Gesellschaft für morgen und ihr bildet auch die Gesellschaft von übermorgen.“

 

 

Singen im Knabenchor ist Lebensschule und Herzensbildung, das habe ich in den Gesprächen mit den Jungs und dem Chorleiter vom Collegium Iuvenum gelernt. Die Jungen lernen sich in die Gemeinschaft einzubringen und dass es immer schöner klingt, wenn einer auf den anderen hört. Sie setzen sich mit der Gedankenwelt und der Musik anderer Zeiten auseinander. Der Chorleiter hat im Booklet für die Weihnachts-CD geschrieben: „Herz und Bauch machen uns aus, nicht nur unser Hirn“.

Und so lernen die Jungen vom Collegium Iuvenum und lehren andere im Advent das Warten und das Staunen über Gott, der zur Welt kommt. Und mit ihnen lernen viele zu fragen – und ich selbst bin eine von ihnen:

 

(Musik: „Wie soll ich dich empfangen?“)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Hosianna dem Sohne Davids, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Christmas Lullaby
  2. Psallite, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Christmas Lullaby
  3. Deutsches Magnificat, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Collegium Iuvenum Stuttgart
  4. Also hat Gott die Welt geliebt, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Christmas Lullaby
  5. Leise rieselt der Schnee, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Christmas Lullaby
  6. Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Christmas Lullaby
  7. Wie soll ich dich empfangen, Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, Christmas Lullaby


 

13.06.2019
Lucie Panzer und Wolf-Dieter Steinmann