Wenn aus Letzten Erste werden

Feiertag
Wenn aus Letzten Erste werden
Von der ungerechten Güte Gottes
07.02.2016 - 07:05
11.01.2016
Susanne Krahe

Über die Sendung

„So werden die Letzten die Ersten sein, und die Ersten die Letzten“ (Mt 20,16) Mit diesem berühmten Satz schließt Jesu Gleichnis von den Arbeiter im Weinberg. Es erzählt über gleichen Lohn für ungleiche Arbeit, ein heute undenkbares, da „ungerechtes“ Verfahren, das die Fleißigen aller Zeiten zum Protest herausfordert. Die Sendung erzählt das irritierende Gleichnis vom Standpunkt eines begünstigten Arbeiters nach. Er kann seine großzügige Entlohnung kaum fassen. Auf einer zweiten Erzählebene schildert eine Frau von heute ihr Problem mit dem Beschenktwerden. Eigentlich würde sie sich die Zuwendungen lieber „verdienen“.

 

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Es gibt problematische Sätze, die begleiten einen ein Leben lang. Mit den Jahren verlieren sie ihre Stachel, oder sie setzen frische Borsten an. „Womit habe ich das verdient!“ ist so ein Satz, der mir immer wieder in die Quere kam; eine Frage, die meistens mit einem Ausrufungszeichen endet, weil sie eigentlich als Protest gemeint ist, als Vorwurf. „Womit habe ich solch eine Strafe verdient!“ Ein Stoßseufzer gegen ein ungerechtes Schicksal oder einen willkürlichen Gott. Aber was ist eigentlich mit einem Gott, der einem unverdientes Glück beschert?

 

Einer der Tagelöhner, von denen ein Gleichnis Jesu erzählt, hatte sich schon damit abgefunden, dass er nicht zu den Glückspilzen des Lebens gehörte. Immer, wenn Chancen verteilt wurden, kam er zu spät. Als auf dem Dorfplatz Arbeit verteilt wurde, stand er als einer der Letzten in einer langen Reihe von Bewerbern. Denen, die zuerst angestellt wurden, war ein Denar versprochen worden; Ein Denar für einen Tag Arbeit in einem Weinberg! Das hörte sich nach einem fairen Lohn für diesen Job an.

 

Der Hausherr ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.

(Mt 20,3-5)

 

Und ich? Hatte meine Chance wieder mal verpasst, dachte ich. Einmal zu spät, immer zu spät. Einmal der Letzte, immer der Letzte. Womit hatte ich so viel Pech verdient?

 

Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?

Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.

(Mt 20,6f)

 

Von wegen „müßig“. Als ob ich freiwillig noch auf dem Dorfplatz rumgehangen hätte! Eine Stunde vor Feierabend lohnte es sich eigentlich kaum noch, mit der Arbeit anzufangen. Andererseits: Ich wollte meinen guten Willen beweisen. Ich wollte zeigen, dass mit einem wie mir immer etwas anzufangen war.

 

Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.

(Mt 20,7-10)

 

Ich stand gleich in der zweiten Reihe; ein Platz, den ich nicht gewohnt war. Nur ein einziger Rücken eines Kollegen versperrte mir die Sicht auf den Verwalter, seinen Tisch und das Geld, das er auszahlte.

 

Plötzlich ein Aufschrei. Im ersten Moment dachte ich, es hätte Streit gegeben. Mein Vordermann riss seine Arme in die Höhe, und ich zog instinktiv meinen Kopf ein. Aber dann streckte er seine Pranken nach vorn aus, um seinen Lohn in Empfang zu nehmen.

Es war ein ganzer Denar! Ein voller Tagessatz für nur eine einzige Stunde Arbeit! War das zu fassen?

Auch mir drückte der Verwalter ohne Zögern den fürstlichen Lohn von einer Silbermünze in die Hand, und wenn ich nicht so verblüfft dagestanden wäre, hätte ich auf der Stelle in den Jubel eingestimmt. Einen vollen Tagessatz für nicht mal einen Viertel Tag Arbeit! Womit hatte ich so viel Glück verdient?

 

Geschenke? Ich hatte immer Probleme damit, sie einfach anzunehmen. Als Jugendliche reagierte ich sogar ausgesprochen abschätzig, ja arrogant darauf. Ich weiß nicht warum, aber ich konnte die feierliche Prozedur des Beschenktwerdens einfach nicht über mich ergehen lassen, ohne meine Beschenker zu irritieren. Als hätte ich eine feindliche Attacke mit einem rechtzeitigen Gegenangriff zu kontern, brachte ich jeden in Verlegenheit, dessen Päckchen ich gerade aus dem Papier wickelte. „Und womit habe ich das verdient?“ fragte ich ironisch, ganz so, als wäre der Schenker gerade in einen dicken Fettnapf gestapft. Dabei gefiel mir sein Geschenk. Manchmal erfüllte es sogar einen heimlichen Herzenswunsch. Hätte ich nicht einfach „danke!“ sagen und mich freuen können?

Wenn das so einfach gewesen wäre! Ich freute mich ja; meistens jedenfalls. Bloß: Wie tanzt man Freudentänze, wenn man immer nur seine Standard-Schritte geübt hat?

Schon im Vorfeld artete die Bescherung zum Stress aus.

 

Ein ganzer Denar! Ich glaubte es nicht. Was eine kleine Familie täglich an Brot, Milch und Käse brauchte, konnte man von einem solchen Stück Silber kaufen. Man bekam sogar noch etwas Wechselgeld heraus. Für ein Ehepaar wie meine Frau und mich, das seine Kinder längst nicht mehr unter dem eigenen Dach ernähren musste, reichte dieser Betrag für mehrere Tage Sorglosigkeit.

Der Mann auf der anderen Seite des Tisches hatte mich beobachtet. Aufmunternd nickte er mir zu. „Das ist in Ordnung!“ sagte er. „Ein Denar für Jeden. So und nicht anders will es der Herr des Weinbergs.“

Einfach nur Großzügigkeit. Einfach nur Güte.

Dann spurtete ich an der langen Schlange von Kollegen vorbei nach Hause.

Meine Frau wollte kaum glauben, was passiert war. Einen ganzen Tagessatz für eine Stunde Arbeit? Unmöglich. Und nicht gerade gerecht, den Anderen gegenüber, wie sie fand. Misstrauisch beäugte sie das Geldstück. Sie biss sogar hinein, um seine Echtheit zu prüfen. Das passte zu ihrer vorsichtigen Lebenseinstellung. Unsere ganze Ehe lang bremste sie meinen Überschwang mit einer gehörigen Portion Skepsis. Auch jetzt hätte sie meinen Lohn am liebsten an einem sicheren Platz im Haus aufbewahrt, falls der großzügige Arbeitgeber es doch noch zurückfordern sollte. „Nichts da!“ Ich war gegen die Vorsichtsmaßnahme. Ich fand, dass dieser besondere Tag ein Fest verdiente.

 Eine kleine Feier mit den Nachbarn, ein bisschen mehr Wein als sonst, ein Käse, der ein wenig teurer sein durfte als üblich. Vielleicht sogar ein Lammbraten?

 

Zwei Stunden später saßen wir dann alle zusammen vor unserem Festbraten. In Windeseile war das Gerücht über die unkonventionelle Entlohnung in alle Häuser unserer Siedlung vorgedrungen. Ein Denar für alle und jeden! Egal, wie lange man gearbeitet hatte? Auch unsere Gäste konnten es kaum glauben. Allerdings: Manchen schmeckte diese Neuigkeit nicht süß, sondern bitter. Einige unserer Gäste ließen sich nicht mal ein Lächeln über meine – angeblich „ungerechte“ – Entlohnung abringen, nicht mal ein Achselzucken über mein unverhofftes Glück. Es machte mich traurig, wie wenig sie an unserer Freude Teil hatten. Sie fanden das Ganze einfach nur ungerecht.

Und der Herr des Weinbergs hatte es so gut gemeint.

 

„Im Leben wird einem nichts geschenkt.“ Noch so ein Satz, den ich viel zu oft zu hören bekommen habe; eine Weisheit, die Schüler zum fleißigen Lernen, Leistungssportler zum harten Ausdauertraining und Manager zu noch mehr Überstunden motivieren soll.

„Ohne Fleiß kein Preis!“ Alles Andere wäre ungerecht. Aber manchmal versteckt sich hinter dem Pochen auf Gerechtigkeit auch ein versteinertes Herz. Spenden? Nein, wies ein älterer Herr den Schüler in seine Schranken, der mit einer Dose vor seinem Kopf herumklapperte. „Du kriegst nicht einen Groschen von meinen sauer verdienten Kröten ab, weder für Flüchtlinge, noch für hungernde Kinder in Afrika!“ Und warum nicht? Warum wollte der gut situierte Rentner partout nicht mal das Wechselgeld aus seiner Hosentasche in die Sammelbüchse stecken? Weil auch ihm im Leben nichts geschenkt worden sei, posaunte er durch die Fußgängerzone. Weil auch er sich jeden Cent, den er heute von der Rentenkasse überwiesen bekam, mit harter Arbeit verdienen musste.

Er bildete sich viel darauf ein, nie um eine Spende gebeten zu haben, alles aus eigener Kraft geschafft zu haben. Vor lauter Stolz auf die eigenen Leistungen gönnte er nun niemandem auch nur das kleinste Geschenk.

Der Schüler mit der Sammelbüchse zuckte die Achseln und ließ ihn stehen.

 

Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.

(Mt 20,9f)

 

Eigentlich sehe ich bis heute nicht ein, wieso ich mir ein schlechtes Gewissen einreden lassen sollte. Meine Nachbarn versuchten sofort, mein Mitgefühl auf diejenigen Kollegen umzulenken, die als Letzte bezahlt worden waren. Zwölf Stunden Schuften im Weinberg. Und kriegten nun auch nicht mehr als einen Denar ausgezahlt! War das nicht ungerecht?

Meine Frau schlug in dieselbe Kerbe. Sie gab zu bedenken, dass, wer mehr gearbeitet habe, auch mehr verdienen müsse. Alles andere rieche nach Willkür, sagte sie, und erntete Kopfnicken „Stell Dir vor, Gott würde genauso handeln wie dieser Weinberg-Besitzer!“

Genau! So wie diesen Weinbergbesitzer, genau so will ich mir Israels Gott vorstellen: Gütig und mit einem Herz für die Letzten, die er zu Ersten machte. Hatte sich deshalb die Arbeit für die anderen Kollegen etwa nicht gelohnt?

Schließlich entsprach die ausgezahlte Summe genau der Vereinbarung, und ein Arbeitgeber, der einen fairen Vertrag angeboten hatte und ihn auch noch einhielt, der hatte es nicht verdient, als „ungerecht“ beschimpft zu werden. Was heißt denn da ungerecht? Die fleißigen Kollegen hatten sich in falsche Erwartungen hineingesteigert, das war alles. Ich hatte ihnen weder etwas weggenommen, noch waren sie um ihre Bezahlung geprellt worden. Nicht, dass ich nicht nachvollziehen konnte, was sie sich für sechs, für neun, für zwölf Stunden Knochenarbeit ausgerechnet hatten! Wenn der Weinbauer sich schon eine lumpige Stunde einen ganzen Tageslohn kosten ließ… Und sie malten sich entsprechend mehr Silber aus, und das Geld leuchtete ihnen schon im Voraus aus den Augen. Aber nichts da. Zu früh gefreut.

 

Und als sie den Silbergroschen empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn

und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.

(Mt 20,12)

 

Gleichmacherei! Der Vorwurf kam mir bekannt vor. Und ich war der Faulenzer, der Schmarotzer. Kaum, dass ich mich vor den Vorwürfen meiner Nachbarn retten konnte. Sie hatten sich auf die Seite der fleißigen Arbeiter geschlagen und nahmen mich kräftig in die Mangel. „Schämst du dich gar nicht? Kommst zuletzt und mahlst zuerst!“

 

Der Hausherr antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?

Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir.

Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?

(Mt 20,13-15)

 

 

„Seid ihr etwa neidisch, bloß weil ich so gütig bin?“ Die Antwort auf diese Frage hätte ich gern mitbekommen.

Und ein großzügiger, gnädiger Gott könnte genau so fragen.

 

Es war mein Freund aus Studientagen, der meine Verlegenheit als Erster klar diagnostizierte. „Geschenke-Phobie, gepaart mit Selbstüberschätzung! Wie du auf Geschenke reagierst, ist jedenfalls nicht normal“, stellte er fest. Mein Tick aus Kindertagen hatte sich leider nicht ausgewachsen, sondern zu einer handfesten Macke weiterentwickelt. Weihnachten und Ostern? Nichts als heidnische Bräuche, an denen vor allem Papiermüll produziert und Kitsch angesammelt wurde. Am liebsten hätte ich alle Feste abgeschafft. Seit Jahren lehnte ich es ab, Wünsche preiszugeben, oder gute Prüfungsnoten mit einem Glas Sekt zu begießen. Solche „Belohnungen“ brauche ich nicht, war meine Erklärung. Mein Prüfungserfolg war kalkuliert gewesen. Er war verdient, keine freudige Überraschung. Einmal rutschte mir der Spruch heraus: „Was ich brauche, kann ich mir selbst kaufen. und was ich nicht brauche, will ich auch nicht geschenkt bekommen.“ Eine todsichere Methode, um dem fröhlichsten Geber seine Heiterkeit aus dem Gesicht zu vertreiben.

 

Zu meinem Geburtstag dann ließ mein Freund, meiner Protesthaltung zum Trotz, eine Schleife von einem Geschenkpapier provokativ aus seiner Sakko-Tasche baumeln. Ich erschrak, als ich die Verpackung sah. Das durfte doch nicht wahr sein! Das quadratische Format dieses Geschenks sah verdächtig nach Schmuckkästchen aus. Ein Freundschaftsring? Ein Verlobungsring gar?

Der Anblick brachte mich in die glücklichste Verlegenheit meines Lebens. Kein Geschenk hätte ich lieber ausgepackt. Aber statt meinem Freund um den Hals zu fallen, verschanzte ich mich hinter Schweigen. Nur eine dumme Bemerkung brachte ich über die Lippen: „Machst Du Witze“?“

„Keine Sorge! Meinst du etwa, ich wollte dir Handschellen anlegen?“ fragte er. In meiner Fantasie schrumpften die Schellen zu einem kleinen, silbernen Ding mit einem Stein in der Mitte zusammen und schlangen sich um meinen Ringfinger. Der Mann hatte sich also doch nicht davon abschrecken lassen, mich an sich zu binden. Ich wusste nicht, ob es Ärger über seine Sturheit war, oder etwas ganz anderes, das mir vom Hals in Richtung Augen kroch, etwas wie Erleichterung, etwas wie Rührung.

 

„Nun pack schon aus.“

Das Geschenkpapier ließ sich zusammen mit einer goldenen Kordel leicht entfernen. Ja, es war ein Schmuckkästchen, außen glatt, innen gepolstert. Aber es enthielt keinen Ring, sondern ... einen Glückspfennig. Verblüfft hielt ich das bronzene Geldstück hoch.

„Eine Münze!“ staunte ich, und erlaubte mir ein albernes Auflachen. Die Ironie feierte einen Etappensieg nach dem Anderen. „Machst du Witze?“

Da entdeckte ich eine kleine Kugel in der Ecke der Schachtel. Das zusammengeknüllte Papierchen enthielt den Beipackzettel zu der Medizin, die sich mein Freund ausgedacht hatte, um meine Krankheit zu heilen. Seine krakelige Handschrift unterrichtete mich über die Anwendungsgebiete des Glückspfennigs. Die Münze war natürlich nur ein Symbol. Sie stand für einen Moment des Glücks an einem Tag, an dem ich ihn am meisten brauchen würde. Die Sekunde eines drohenden Unfalls. Der Schritt, mit dem ich das Büro auf meiner neuen Arbeitsstelle betrat. Ich konnte den Pfennig einsetzen, um die Gefahren zu bannen.

Eine nette Idee war das. Was aber noch großzügiger war, ja was die Idee geradezu waghalsig machte: Derjenige, der mir den Glücksmoment schenkte, schöpfte ihn aus dem eigenen Glücksreservoir. Er verzichtete auf eine Sekunde Glück, damit ich sie in Anspruch nehmen konnte. Welcher Moment es war, den er für mich aufgab, stand nicht fest. Der gefährliche Augenblick, in dem eine Stoßstange mich verfehlte, der Anteil der Ewigkeit, die über das Ja oder Nein zu einem Heiratsaspiranten entschied, der erste Tag im Berufsleben, die letzte Sekunde, die ich zum Ausatmen brauchte: Das Glück, das in diesem Pfennig steckte, konnte alles sein, und dieses Geschenk würde mich immer daran erinnern, dass mein Glück doch nicht von mir selbst geschmiedet wurde.

Es war das liebevollste Geschenk, das ich je erhalten hatte. Ich war überwältigt. Aber wie immer fiel mir nicht das passende Wort ein. Ein schlichtes „Danke!“ schien mir zu banal. Stattdessen entfuhr mir die dümmste aller Antworten: „Womit habe ich das verdient?!“

11.01.2016
Susanne Krahe