Barmherzigkeit

Gedanken zur Woche
Barmherzigkeit
24.04.2015 - 06:35
03.04.2015
Pfarrer Jost Mazuch

Mehr als achthundert Menschen sind am letzten Wochenende im Mittelmeer ertrunken, als ihr Boot kenterte. 800 Menschen! Und doch war mein erster Gedanke: Schon wieder! Tatsächlich war ja schon am Dienstag zuvor ein Schiff mit über 400 Menschen untergegangen. Und tausende sind im Mittelmeer gestorben, seit vor eineinhalb Jahren beim damals größten Unglück vor Lampedusa 390 Flüchtlinge ertranken. Lampedusa wurde zum Symbol für eine Flüchtlingspolitik, die Mauern um Europa errichtet, um Flüchtlinge abzuhalten. Immer mehr Menschen sterben daran. Nicht die Flüchtlinge – diese Mauern erschüttern die Grundfesten europäischer Werte.

 

Jetzt sind in einer Woche dreimal so viele Flüchtlinge ertrunken wie damals vor Lampedusa. Das hat viele Menschen schockiert und eine Menge Diskussionen in Gang gesetzt: Was muss geschehen, damit solche Katastrophen verhindert werden? Wann gibt es endlich ein gut ausgestattetes, ziviles Seenotrettungssystem? Und wie muss sich die europäische Flüchtlings- und Einwanderungspolitik verändern? Das alles sind wichtige Fragen, und es ist gut, dass sie wieder und wieder gestellt werden.

 

Und doch hatte ich in dieser Woche manchmal das Gefühl, dass diese ganzen Diskussionen merkwürdig distanziert geführt wurden. So, als würden wir Europäer für die Menschen aus fernen Ländern, die da ertrunken sind, deutlich weniger Mitgefühl aufbringen als beispielsweise für die Opfer des Flugzeugunglücks aus Deutschland. Auch richtig hässliche Töne waren zu hören: da wurden zum Beispiel die Flüchtlinge für ihr Unglück selbst verantwortlich gemacht. Kann es sein, dass wir mit der Mauer, die um Europa errichtet wurde, auch eine Mauer um unsere Herzen gezogen haben?

 

Im Fernsehen liefen die üblichen Sondersendungen und Talkshows, die bekannten Politiker und Experten vertraten ihre erwartbaren Meinungen. Einer aber durchbrach diese Routine. Das war in der Talkshow von Günther Jauch: Harald Höppner, der gerade ganz auf eigene Initiative ein Schiff ins Mittelmeer geschickt hat, um den Bootsflüchtlingen greifbar Hilfe zu bringen. Statt sich vom Moderator über sein Engagement befragen zu lassen, machte er etwas Überraschendes: er bat die Gäste und das Publikum, der am Sonntag gestorbenen Menschen in einer Schweigeminute zu gedenken – und sie folgten seiner Aufforderung, obwohl der überrumpelte Moderator noch versuchte, weiterzusprechen.

 

Es war, als ob allen Anwesenden plötzlich klar wurde: wir dürfen in unseren Debatten die Opfer nicht vergessen. Jeder einzelne Mensch, der dort ertrunken ist, war für andere ein wichtiger, ein besonderer Mensch. Jeder einzelne hatte seine Geschichte und seine Hoffnungen. Sie alle hatten Familien und Freunde. Sie werden vermisst und betrauert.

Mitgefühl, Empathie: das Schicksal eines anderen Menschen an sich herankommen lassen – das ist eine urmenschliche Fähigkeit. Manche nennen sie Humanität, als christliche Tugend wird sie Barmherzigkeit genannt: Das Herz öffnen für andere Menschen und trennende Mauern abbauen. Den Keim für Barmherzigkeit trägt jeder und jede in sich – die Frage ist, ob wir auch zulassen, dass sie wachsen kann. Genau das erleben viele Helfer, die sich um Flüchtlinge kümmern, die hier in Deutschland ankommen. Oft erzählen sie, wie sehr ihnen das Herz aufgegangen ist, wenn sie einen von diesen vorher ganz fremden näher kennenlernten.

 

Manchmal braucht es nur eine Minute Unterbrechung und Schweigen, um Nähe und Barmherzigkeit wachsen zu lassen. Am kommenden Wochenende soll das in vielen Gottesdiensten geschehen, in denen der Opfer der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer gedacht wird. Es wird für sie und für ihre Angehörigen gebetet, und auch dafür, dass die Mauern um unsere Herzen und die Mauern um Europa kleiner werden. Dafür, dass aus dem Reden Handeln wird.

 

Wenn Sie mit mir darüber sprechen wollen, was das Unglück der Flüchtlinge für uns in Europa bedeutet, können Sie mich bis acht Uhr anrufen unter der Telefonnummer 030 325 321 344. Ich wiederhole: 030 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter „deutschlandradio.evangelisch“.

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03.04.2015
Pfarrer Jost Mazuch