Bleibt alles anders

Gedanken zur Woche

Gemeinfrei via unsplash/ Bud Helisson

Bleibt alles anders
Zum 3. Oktober 2020
02.10.2020 - 06:35
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Eigentlich sollte es ein großes Bürgerfest werden - morgen, am 3. Oktober. Wegen Corona ist jetzt alles anders. Manche werden in Potsdam durch die Ausstellung der Bundesländer wandern – mitten drin ein großes schwarz-rot-goldenes WIR. Die meisten werden zu Hause sein und ganz persönlich zurückschauen. Auf 30 Jahre deutsche Einheit.

Ich stand vor 30 Jahren in Mönchengladbach auf dem Marktplatz mitten im Gedränge. Die Glocken läuteten, die Begeisterung war mit Händen zu greifen. Jeder erinnerte sich noch an die Öffnung der Schlagbäume, an Menschen, die sich in den Armen lagen. Die Hoffnung auf blühende Landschaften war noch zu greifen. Längst ist das alles von anderen Bildern überlagert – der Kampf der Kalikumpel in Bischofferode, die wütenden Bürger am Flüchtlingsbus in Clausnitz, das Adventssingen an der wiedererstandenen Frauenkirche in Dresden. Der Abriss der ostdeutschen Betriebe, der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses – wer hätte sich das alles vorstellen können vor 30 Jahren? Wer hätte sich die Einheit vorstellen können vor 40 Jahren? Dass alles noch einmal ganz anders würde? Manche haben darauf gehofft – wie auf eine Verheißung. Manche haben es als persönlichen Albtraum erlebt. Und für viele gilt beides. Aber klar ist: Wer damals in der DDR lebte, wird diese grundlegende Erfahrung nicht vergessen: dass alles anders werden kann– auch die politische Ordnung.

„Alles könnte anders sein“, heißt auch ein Buch von Harald Welzer. Da geht es um die Veränderungen, denen wir in den nächsten Jahren entgegengehen. Wegen der Erderwärmung. Für den Klimaschutz. Wie werden wir, wie werden unsere Kinder und Enkel in dreißig Jahren leben? Wie werden die Sommermonate 2050 aussehen? Welzer berichtet vom Fahrradverkehr in Kopenhagen, von Cafés in Parkhäusern und vom bedingungslosen Grundeinkommen. Lauter Kostproben, damit wir uns eine andere Welt vorstellen können.

Damit haben wir Erfahrung in Deutschland. Die Berliner Schriftstellerin Kathrin Passig hat vor kurzem ein „Handbuch für Zeitreisende“ geschrieben. Darin findet sich auch eine Reise in die DDR, das vergessene Land, den „verschluckten Staat“. Dieser Staat, schreibt sie, sei in vieler Hinsicht so, wie man sich Deutschland in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vorstellt: schlechte Luft, schlechte Straßen, überhaupt keine Handys und alle tragen dieselben Hosen. Da sei die DDR nur ein beliebiges Land in der Vergangenheit. In anderer Hinsicht aber ein Land aus der Zukunft. Glas, Papier und Metall werden gesammelt und wieder verwertet. Die meisten Frauen sind berufstätig. Die Kinder gehen in Krippe oder Kindergarten. Lebensmittel, Wohnraum, Bücher, öffentliche Verkehrsmittel sind überaus günstig. Was allerdings auffällt: der Geruch von Braunkohle, das Grau in Grau und dann - das Netzwerk der Überwachung.

Passig erklärt, was SERO-Wertstoffsammlungen sind. Wie die Sobotniks sind auch die schon fremd geworden. Und mit den Begriffen schwinden Erinnerungen. Das macht uns ärmer. Denn anders als andere Länder hatten wir in Deutschland die Alternativen immer vor der Tür. Und unter dem Schutt der Vergangenheit liegen noch einige gute Ideen. Die finden wir nur, wenn wir keine Angst haben, uns die Hände schmutzig zu machen. Und nochmal anzuschauen, was gut war und was problematisch. Was zukunftsträchtig und was vorbei. Das kann nur gelingen, wenn wir einander unsere Geschichten erzählen - jenseits von „Ossi-Nostalgie“ und „Wessi-Arroganz“.

„Nimm meinen Schutzwall ein (und) schleif meine intelligente Burg“, betet die Theologin Dorothee Sölle. Und ich bete heute mit. „Reinige mich vom Verschweigen, (Gott), gib mir die Wörter, den neben mir zu erreichen. Gib mir die Gabe der Tränen, Gott, gib mir die Gabe der Sprache. Gib mir das Wasser des Lebens“. Ja, so fängt die Zukunft an, immer wieder: mit offenen Worten, manchmal auch mit Tränen, und mit dem gemeinsamen Blick auf das, was uns reich macht. Die unterschiedlichen Erfahrungen. Die Schätze, die sich darin zeigen. Die man heben kann und bewahren. Wenn das kein Grund zum Feiern ist.

Es gilt das gesprochene Wort.

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