Für die Schwächsten da sein

Gedanken zur Woche

Bild: © epd-bild/Jörn Neumann. Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Für knapp 3.000 Personen ausgelegt, müssen im Lager und auf Feldern und Olivenhainen außen herum mehr als 20.000 Menschen ausharren.

Für die Schwächsten da sein
Gedanken zur Woche mit Pfarrer Jörg Machel
03.04.2020 - 06:35
03.01.2020
Jörg Machel
Über die Sendung

Es ist bemerkenswert, wie Menschen zu solidarischem Handeln bereit sind. Das sollte nicht an unserer Haustür enden – findet Pfarrer Jörg Machel in den Gedanken zur Woche.

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Es ist bemerkenswert: fast alle Länder dieser Erde haben eine Entscheidung getroffen, die ganz und gar nicht selbstverständlich ist – zuerst sichern wir die Gesundheit unserer Bevölkerung, dann erst sorgen wir uns um das Bruttosozialprodukt.

 

Man könnte dagegenhalten, dass nur eine funktionierende Wirtschaft ein leistungsfähiges Gesundheitswesen ermöglicht. Aber solche Einwände hört man selten. Es ist erstaunlich wie einmütig Politik, Wirtschaft und Bevölkerung akzeptieren, dass die Schwachen zu schützen sind. Denn damit rechtfertigt man die Einschränkungen der letzten Tage und Wochen: jene Menschen zu schützen, die bei einer Infektion mit dem Coronavirus nicht nur mit mehr oder weniger starken Grippesymptomen zu kämpfen haben, sondern deren Leben bei Ansteckung mit dieser meist glimpflich verlaufenden Krankheit gefährdet wäre.

 

Die geplatzte Urlaubsreise unserer Tochter war nicht viel mehr als eine Unannehmlichkeit. Dagegen sind viele meiner Bekannten in ihrer Existenz bedroht: als Freiberufler, Selbstständige, Gastwirte, Buchhändler, aber auch als Angestellte in Unternehmen, die schließen mussten. Einem Freund sind als Messebauer von einem Tag auf den anderen alle Aufträge weggebrochen. Eine Freundin weiß nicht, wie sie den Spagat zwischen Homeoffice und Kindern hinbekommen soll. Fast alles Leute, für die das Coronavirus wahrscheinlich keine lebensbedrohliche Gefahr darstellt. Aber sie nehmen diese existenzbedrohenden Einschränkungen in Kauf, um das Leben derer zu schützen, die massiv gefährdet sind.

 

Hochbetagte werden genannt, auch Menschen mit Vorerkrankungen gehören in die Risikogruppe. Über eine Gruppe wird nur wenig gesprochen, das sind die Menschen, die in überfüllten Flüchtlingslagern auf engstem Raum zusammenleben, geschwächt von Krieg und Vertreibung. Noch scheinen die meisten Flüchtlingslager frei zu sein von der Coronainfektion, noch ist Zeit, die Menschen in kleinen Gruppen über ganz Europa zu verteilen, um sie zu schützen.

 

Warum gilt nicht auch für sie, was für unsere unmittelbaren Nachbarn gilt? Ist die Angst vor der Entsolidarisierung beim Thema Flüchtlinge so groß, dass dadurch die Empathie mit ihnen auf der Strecke bleibt? Die Solidarität nach innen ist bemerkenswert. Nach außen aber schirmt man sich ab. Dabei sollte die Pandemie lehren, dass eine globale Welt keine Ausgrenzung verträgt. Die Situation in Italien und Spanien wird in ihren Auswirkungen auch uns treffen. Die Überlassung von ein paar Notbetten für Hochrisikopatienten aus den Nachbarländern wird nicht ausreichen.

 

Menschen sind zu solidarischem Handeln bereit. Musizierende Nachbarn auf den Balkonen, ein Blick auf die leeren Straße vor unseren Häusern zeigt es. Doch ein solidarischer Blick endet nicht vor der eigenen Haustür. In diesen Tagen wäre Hilfe für die Flüchtlinge in den Lagern noch möglich. In Moria auf der griechischen Insel Lesbos gibt es „nur eine Toilette für jeweils 167 Personen, nur eine Dusche für mehr als 200 Personen, nur einen Wasserhahn für 1300 Personen“ vermeldet „Ärzte ohne Grenzen“ (1). Die Informationsblätter auf Arabisch oder Farsi mit den Hinweisen zum häufigen Händewaschen wirken da wie Hohn. Sind die 20.000 Menschen dort erst einmal infiziert, werden wir die Totenmeldungen auch auf unser Konto schreiben müssen.

 

Solidarität heißt, alles zu tun, was in unserer Macht steht, um der Pandemie zu wehren. Für unsere Nächsten klappt das schon ganz gut, es ist an der Zeit, dass wir auch für die Ferneren zu Nächsten werden. Diskutieren Sie mit, auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

(1) Stand 30.3.2020; https://www.tagesschau.de/ausland/corona-griechenland-moria-101.html

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03.01.2020
Jörg Machel