Negativitätsverzerrung

Hände in Gummihandschuhen

Gemeinfrei via unsplash/ Clay Banks

Negativitätsverzerrung
Wie es sich in der Pandemie positiv bleiben lässt
16.04.2021 - 06:35
15.04.2021
Jula Well
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen:

Wenn man immer nur das Negative sieht, kann man nichts erreichen. Zugegeben, was nicht funktioniert muss gesehen und verbessert werden, sagt Angela Merkel sinngemäß in ihrer Regierungserklärung vom 25. März. Kritik ist wichtig. Aber die Kanzlerin mahnt: „Man kann auch nichts erreichen, wenn man immer nur das Negative sieht.“

Spontan stimme ich zu, denn ich weiß um die Macht der Negativität. Schaue ich nur auf das, was nicht gelingt, dann gehe ich eher davon aus, dass tatsächlich alles negativ ist. Testpflicht, Notbremse, Ausgangssperren… Da, wo alles negativ scheint, da gibt es wenig Grund, mutig nach vorn zu schauen und mit Verantwortung zu handeln. So baut Negativität an meiner Seele: Ich bin versucht, mich passiv dem Schicksal zu ergeben - läuft ja eh alles schief. 

Verschärft wird der negative Zugang zur Wirklichkeit durch die Neigung, das Schlechte viel schärfer wahrzunehmen als das Gute. ‚Negativity bias‘ – Negativitätsverzerrung – wird das genannt: Menschen sind sensibler für das Böse als für das Lebensfreundliche. Dunkle Bilder wirken stärker als helle. Zum Fürchten ist das.

Ob ich die Nachrichten höre oder durchs Fernsehprogramm zappe: Es sind die dunklen Bilder, die mich treffen. Ich sehe Statistiken zu Infektions- und Todeszahlen und höre beunruhigende Prognosen. Das baut an meiner Seele. Zum Fürchten ist das.

Eines Abends aber lande ich beim Fernsehen in einer außergewöhnlichen Sendung. Ich sehe zwei Hände. Es sind Hände in Gummihandschuhen, die Tabletten aus einer Verpackung drücken. Ich halte inne und schaue zu.

Es dauert etwas, bis ich verstehe, was das für ein Programm ist: Ich schaue einer Krankenpflegerin bei der Arbeit zu. Einen Frühdienst lang trägt die Pflegerin eine Kamera bei sich und so bin ich in Echtzeit bei allen ihren Handgriffen dabei. Ich schaue gebannt zu. Ich kann nicht wegsehen – stundenlang.

Auch bei dem, was ich da gerade sehe, erkenne ich gleich ein Problem. Das ist typisch Mensch und beabsichtigt, denn die Sendung macht auf den Pflegenotstand aufmerksam.

Ich spüre den Notstand schon beim Zuschauen. Jeder Handgriff ist wichtig. Das Arbeitstempo ist bedrückend. Ich sehe, wie sich die Pflegerin die Hände desinfiziert – wieder und wieder – und sich bei manchen Handgriffen noch ein paar sterile Handschuhe über die anderen Handschuhe zieht, sie nach Gebrauch gleich wegwirft und sofort wieder neue Handschuhe anzieht. Sie dokumentiert die Versorgung, stellt Perfusoren ein, hängt Infusionen an, spricht mit einer Patientin.

Allererst geht es bei dem, was ich da gerade sehe, also um den Pflegenotstand. Und ich sehe dieses Problem. Ich sehe aber auch noch etwas anderes. Neben dem, was nicht funktioniert, sehe ich bei dieser Sendung auch das, was gelingt. 

Ich sehe Hände, die von Kompetenz und Leidenschaft erzählen. Ihre Bewegungen wirken routiniert und konzentriert. Diese Hände wissen, was sie tun. Gekonnt wird ein Wundverband schmerzfrei gelöst. Das Arbeitsmaterial wird desinfiziert, bis in den kleinsten Winkel der Schere. Ich sehe die Hände unzählige Male nach Tüchern greifen, Schubladen öffnen, Handschuhe anziehen, Handschuhe ausziehen und höre die einfühlsame und freundliche Stimme der Pflegerin, wenn sie mit einer Patientin spricht. Und mir wird bewusst: Ich werde zur Zeugin einer hohen Kunst. Es ist die Kunst, einen sehr kranken Menschen gesund zu pflegen.  

Das gute Bild der Hände steht in meinen Gedanken jetzt gleichberechtigt neben den dunklen Bildern - es gehört genauso zur Wirklichkeit dazu. Ich bin dankbar für jeden Menschen mit solchen Händen und denke an einen Vers aus der Bibel:

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

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15.04.2021
Jula Well