Achtsam

Morgenandacht
Achtsam
01.06.2017 - 06:35
29.05.2017
Landespfarrerin Petra Schulze

„Mein Leben ist so aufregend“, sagt Mia. „Dauernd ist was los. Ich bin immer neugierig auf den neuen Tag, der vor mir liegt.“ Mia wohnt in einem Dorf. „Da ist eigentlich gar nichts los“, meint Beate, ihre Freundin. Die wohnt in Berlin. In einem angesagten Kiez. Und ist kreuzunglücklich. „In meinem Leben passiert so gut wie gar nichts. Öde. Trotz des ganzen Trubels. Kultur ohne Ende. Aber irgendwie… trotzdem öde.“

Mia und Beate führen beide ein durchschnittlich aufregendes Leben. Sie haben ein sicheres Einkommen, Freundinnen, Partner, Kinder. Nicht immer ist alles rosig, aber ja, doch ganz zufriedenstellend. An der Oberfläche scheint es, als könnten sie beide mit ihrem Leben zufrieden sein und ihr Dasein genießen. Nur: Beate kann es nicht. „Vielleicht musst du auch auf’s Land und bist einfach kein Stadtkind“, meint Mia. Doch das stimmt nicht. Beate hat sich das Leben in der Stadt selbst ausgesucht. Auf dem Land hält sie es nicht aus.

Was macht also den Unterschied? Wann empfinde ich mein Leben als interessant. Wann habe ich Lust auf das Leben und bin neugierig auf die Zeit, die mir geschenkt ist?

Ein berühmter Kinderbuchautor hat diesen Unterschied für mich auf den Punkt gebracht, schon vor vielen Jahren. Bei einer Lesung fragten ihn Kinder, wie er denn auf die ganzen Geschichten kommt. Wo er die denn findet? „Na, die liegen auf der Straße“, hat er gesagt. „Du musst nur mit offenen Augen durch die Welt gehen. Dann findest du sie. Überall.“

Mich hat der Kinderbuchautor überzeugt. Und seitdem werbe ich für solch offene Augen.

 

Ein befreundeter Zeitschriftenredakteur suchte Autoren für eine Kolumne über kuriose oder witzige Alltagsgeschichten. Er rief ein paar Leute an, von denen er dachte: Die erleben ja eine Menge. Da ist dann bestimmt auch etwas Lustiges dabei. Ich hingegen sitze hier im Büro und erlebe gar nichts mehr. Das sagte er auch so. Ich habe eine Gegenrede gehalten: „Weißt du, am Unterwegssein allein hängt es nicht, ob ich etwas erlebe und sehe von der Welt. Auch im Büro und zu Hause begegnet mir viel, aus dem ich eine kleine Geschichte schreiben kann.“

Die Frage ist: Sehe ich das – und wie deute ich es. Ich könnte Geschichten schreiben: Über die kleine Spinne zum Beispiel, die Tag für Tag ihr Netz neu spinnt. Meine Katze macht es jeden Tag kaputt und sie spinnt es wieder neu. Und wie geschickt sie der Katze ausweicht. Das hat was von Hase und Igel. Eine Hoffnungsgeschichte, oder eine vom Durchhalten.

Oder die Vögel in den Büschen auf der Grünfläche vor unserem Mietshaus. Sie schlagen Alarm, wenn sie sich bedroht fühlen. Ob durch den dicken Nachbarkater oder die Bauarbeiter auf der Baustelle nebenan. Letztens hat eine Krähe über eine Stunde lang mit Gekrächze und Geschrei und Flügelschlagen eine junge schwarze Katze verfolgt, bis diese endlich verschwand. Und die anderen Vögel haben mit gerufen. Ganz aufgeregt. Eine Geschichte vom Zusammenhalten, von Solidarität. Und dann, als der Feind weg war, kehrte Ruhe ein.

Oder ich könnte erzählen von dem 8-Jährigen, der mit einem riesigen Sack voller Flaschen vor dem Leergutautomaten im Supermarkt steht. „Es sind so viele verschiedene Flaschen, die können unmöglich aus einem Haushalt stammen“, denke ich. „Die hat er bestimmt draußen gesammelt.“ Schon zieht vor meinem inneren Auge ein Film von einem armen Jungen auf, der seine Familie mit Flaschensammeln unterstützen muss. Er sieht meinen mitleidigen Blick und fängt an, mir eine kurze schöne ganz andere Geschichte zu erzählen. Sie lässt mich vergessen, was ich gerade über ihn gedacht habe.

Geschichten werden geboren, sobald sich Menschen treffen. Und sobald ich die Augen offen halte. Jeden Tag neu. In immer wieder neuen Situationen. Geschichten, sie liegen auf der Straße. Langweilig muss mir keine Minute sein in Gottes Schöpfung. Sie ist voller Überraschungen.

Formvollendet verabschiedet sich der Junge vor dem Leergutautomaten von mir mit einem Lächeln und einer kurzen Verbeugung: „Und nun sind Sie dran, Ma´m.“

29.05.2017
Landespfarrerin Petra Schulze