Aufbruch mit siebzig

Morgenandacht
Aufbruch mit siebzig
22.09.2016 - 06:35
27.09.2016
Pfarrerin Petra Schulze

Die enge Holztreppe im dunklen Altbautreppenhaus scheint kein Ende zu nehmen. Erst ganz oben ist Licht und eine Gestalt steht in der Tür. Die Frau ist überrascht. Sie kennt mich nicht. Nachdem ich mich vorgestellt habe, sagt sie: „Ach, Frau Pfarrerin, da freue ich mich aber, dass Sie mich besuchen.“ – und bittet mich herein. Heute ist ihr Geburtstag. Der siebzigste. Wir sitzen am Tisch in ihrer kleinen Küche. Die Tür zum Wohnzimmer ist halb geöffnet. Der Fernseher läuft. Ziemlich laut. „Da drüben sitzt mein Mann“, erklärt sie. In ihrem hellgelben Pullover und dem Kurzhaarschnitt sieht sie nicht aus wie siebzig. Eher jünger, finde ich. Und da fängt sie auch schon an, zu erzählen. Dass ihr nicht nach Feiern zumute ist. Dass ihr Leben schwer war. Sie erzählt von Krankheiten und Entbehrungen und vor allem von der Hölle, zu der sich ihre Ehe entwickelt hat. Nebenan läuft weiter der Fernseher, der Mann rührt sich nicht. „Ich will doch nur noch ein paar schöne Jahre“, klagt sie leise. „Hier bin ich eingesperrt. Er erlaubt mir nichts. Ich kann keine Freundinnen einladen, ich kann nicht mit ihnen und ihren Männern wegfahren. Er will nicht mehr mit und dann darf ich auch nicht. Er war immer schon sparsam, aber jetzt schreit er mich schon an, wenn ich die Kartoffeln unter laufendem Wasser wasche. Stellen Sie sich vor – nur wegen ein paar Kartoffeln und der paar Tropfen Wasser. Ich halte das nicht mehr aus. Ich habe vielleicht nicht mehr lange zu leben, so krank wie ich bin. Ich will doch nur noch ein paar schöne Jahre.“

 

„Gott, mein Leben ist hingeschwunden in Kummer und meine Jahre in Seufzen.“ (Psalm 31,11) – sollte dieser Satz aus einem Gebet in der Bibel über diesem runden Geburtstag stehen?

Das wäre ein trauriger Geburtstag. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick ist es der Aufbruch in ein neues Leben. Die Frau fasst Mut, je mehr sie erzählt. Mut, nach Wegen zu suchen, wie sie ihre Situation verbessern kann. Heute hat sie schonungslos offengelegt, wie es aussieht in ihrem Leben. Und dass es dringend anders werden muss. Sie ist bereit. Ihre Kinder werden ihr helfen. Da ist sie sich sicher. Denen muss sie jetzt sagen, wie es wirklich um sie steht.

Alles kommt ins Rollen, ein paar Tage nach unserem Gespräch. Ihre Kinder helfen ihr, eine Wohnung in der Nähe zu finden. Erster Stock, helles Treppenhaus, Balkon, Einkaufsmöglichkeiten um die Ecke. Sie findet Hilfe in einer Beratungsstelle, für ihren Weg durch den Dschungel der Bürokratie. Die Sozialarbeiterin dort, ihr Hausarzt, alle unterstützen sie. Gott, sagt sie, findet sie nicht in der Kirche. Eher bei den Menschen. Und in der Natur. Und dahin bricht sie jetzt auch auf. Sie lädt ihre Freundinnen zum Kaffee ein und nimmt an Ausflügen teil.

Bei ihrem Mann sieht sie regelmäßig nach dem Rechten. Leicht fällt ihr das alles nicht. Sie hat ein schlechtes Gewissen. Darf es ihr gut gehen, während ihr Mann leidet? „Aber scheiden lasse ich mich nicht“, sagt sie. „Das bringe ich nicht übers Herz. Versprochen ist versprochen.“ Dann stellt sich heraus: Ihr Mann hat Parkinson. Einige Monate später liegt er im Krankenhaus, danach zieht er in ein Pflegeheim. Auch hier besucht sie ihn. Sie ist ihm treu. Ihm, aber nun auch endlich sich selbst.

Dazu ist es nie zu spät, lerne ich von ihr. Leicht ist es nicht. Man braucht andere, die einem helfen, den Neubeginn durchzuhalten, zu gestalten, das schlechte Gewissen immer wieder abzuschütteln, das einem die Freude verderben will. Sie hat die Wahrheit ausgesprochen, an ihrem siebzigsten Geburtstag. „Gott, mein Leben ist hingeschwunden in Kummer und meine Jahre in Seufzen.“ (Psalm 31,11). Das hat ihre Situation verändert. Und dann kommt alles ins Rollen. Kräfte wachsen ihr zu und Hilfe. So, dass sie spüren kann: „Gott, du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Psalm 31,9b)

27.09.2016
Pfarrerin Petra Schulze