Der Friedhof lebt!

Morgenandacht
Der Friedhof lebt!
22.04.2015 - 06:35
03.04.2015
Pfarrerin Sandra Zeidler

Ein Eichhörnchen buddelt nach einer Nuss, steckt die Nase ins dunkle Erdreich. Schaut auf. Buddelt weiter. Am Eichhörnchen vorbei schiebt eine Frau den hellblauen Kinderwagen. Frühlingssonnenstrahlen finden ihren Weg durch die Blätter der Kastanien und der Linden. Eine Frau mit Kopftuch sitzt auf einer Bank und liest. An ihr vorbei joggt ein junger Mann, ein Stück weiter macht einer Dehnübungen.

 

Der alte nördliche Friedhof in München ist ein sehr lebendiger Ort. Mitten im Studenten- und Familienviertel gelegen, ist er eine wunderschöne grüne Oase, kaum versteckt hinter roten Backsteinmauern. Kindergartenkinder nehmen in Zweierreihen die Abkürzung durch den Friedhof, in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude am Rand kann man Spanisch lernen oder Bauchtanz. Schon lange wird hier niemand mehr beerdigt. Die Grabsteine sind verwittert, aber immer noch recht imposant. Große Sandsteinblöcke erzählen von vergangenen Leben. Da liegt der „Major a.D., Ritter hoher Orden“, da der „königlich bayerische Zentralimpfarzt“ und nicht weit der „Verwaltungsgerichtshofbote.“

 

Heutzutage schreibt niemand mehr den Beruf auf einen Grabstein. Der Name mit Geburts- und Sterbedatum ist da zu lesen, nicht einmal mehr der Geburtsort. Heute lassen sich immer mehr Menschen anonym bestatten, da gibt es dann ein eine einzige große Fläche, eine Wiese, und vielleicht daneben irgendwo eine Tafel, die auf die Grabstätte hinweist.

 

Die Grabinschriften auf dem alten nördlichen Friedhof erzählen von Veränderungen. Ich lese von der „Lederhändlerswitwe“ und der „Ministerialratstochter“ und versuche mir diese Frauen vorzustellen, die keinen eigenen Beruf hatten, sondern sich definiert haben über den Ehemann und Vater, die Hausfrau waren oder doch eine Dame der Gesellschaft? Dann und wann in die Oper, ins Theater, nur nicht zu kokett auftreten...

 

Heute sind Frauen selbstbewusst und verdienen ihr eigenes Geld, keine will von einem Mann abhängig sein. In den fast 150 Jahren seit Bestehen des alten Friedhofs haben sich Frauen das Wahlrecht erkämpft, sie müssen nicht mehr den Mann fragen, ob sie arbeiten dürfen, sie leben ihr eigenes Leben. Auch diese Geschichte erzählen die Grabsteine.

 

Sie erzählen auch von ganz persönlichem Leid, von dem Kind, das nach nur einem Monat Lebenszeit gestorben ist, von der Tochter, die mit 16 Jahren verstarb, die Mutter im Jahr darauf und vom Vater, der 81 wurde. Wie hat er das geschafft, wie hat er gelebt mit dem Tod, war er oft auf dem Friedhof?

 

Der alte nördliche Friedhof inmitten von München ist immer noch ein Friedhof, auch wenn seit 1945 niemand mehr hier bestattet wird. Offiziell ist er aber auch kein Park, auch wenn man bei dem Getümmel manchmal den Eindruck bekommt. Studenten dösen in der Mittagssonne, Kinder springen zwischen den Grabsteinen herum. Immer wieder gibt es auch Ärger, dann, wenn dort zum Beispiel ein Kindergeburtstag gefeiert wird oder Frauen sich im Bikini auf den Grünflächen sonnen oder leere Bierflaschen an den Gräbern lehnen. Der alte nördliche Friedhof sei doch kein Naherholungsgebiet, sondern eine letzte Ruhestätte, die man ehren soll, sagen dann manche. Andere nehmen ihn schon längst als Park war, als Grünfläche inmitten der Stadt, die Menschen mit Leben füllen. Eine schwierige Diskussion.

 

Mich lässt sie an einen großen Friedhof in Neapel denken. Dort werden sehr wohl noch Menschen bestattet und gleichzeitig macht er einen sehr lebendigen Eindruck. Die Grabsteine werden am Wochenende mit Bürsten geschrubbt und gewienert, üppige Blumengestecke aus Plastik draufgestellt und dann, wenn man fertig ist, klappt man den Stuhl aus, setzt sich und holt einen Rotwein aus der Tasche, lädt die vom Nachbargrab ein und es wird lautstark geredet, diskutiert, gelacht. Die Lebenden und die Toten, vereint in einem einzigen großen Palaver über Gott und die Welt, darüber, was sich verändert hat und darüber, was sich wohl nie ändern wird.

Ein Friedhof inmitten der Stadt – das ist ein schöner Ort, solche Gespräche zu üben, vor allem aber ein Ort, das Leben zu feiern. Das Leben in seiner Schönheit und in seiner Vergänglichkeit. Mitten in der Stadt, mitten im Leben, zusammen mit all den Geschichten, die die Toten uns zu erzählen haben.

03.04.2015
Pfarrerin Sandra Zeidler