Die kleine Klugheit

Morgenandacht
Die kleine Klugheit
30.06.2015 - 06:35
16.06.2015
Ulrike Greim

Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Traum. Der wohnte tief in einem einsamen Herzen. Das Herz hielt sich für hässlich und dumm und traute dem Traum nicht über den Weg.

 

Nacht für Nacht kam er wieder. Klopfte vorsichtig und bescheiden an die Tür. „Ich bin’s. Deine Klugheit“, flüsterte er. „Ich bin Gottes Geschenk an dich. Öffne mir die Tür.“ Sie schloss noch dreimal ‘rum.

 

Der Traum wanderte ums Haus. Suchte ein offenes Fenster. Sie schloss rasch die Oberlichter. Eines Nachts stieg er ihr auf das Dach. Sie verstopfte sogar den Schornstein. Er rief laut: „Hallo! Huhu! Ich bin ein Gruß des Himmels.“ Sie bekam Migräne.

 

Arbeiten, essen, fernsehen, schlafen. Eine Affäre, zwei Beziehungen, drei Trennungen. „Gott im Himmel, wenn es dich gibt...“ betete sie.

 

Der Himmel wurde unwillig.

Der Traum verschwand.

Leer war es in der Nacht.

 

Eines Tages im Möbelmarkt. Sie war beschäftigt, ihre Liste abzuarbeiten. Da kam die Durchsage: „Die kleine Klugheit möchte im Zwergenland abgeholt werden. Ich wiederhole: die kleine Klugheit möchte im Zwergenland abgeholt werden.“

 

Ein Stich durchs Herz. ‚Meine Klugheit, die Kleine!’ Sie rannte. Atemlos. Ins Zwergenland. Sah die vielen kleinen Knirpse. So viel Hoffnung!

Ihre kleine Klugheit stand in der Ecke. Tränen rollten über ihre Wangen. Niemand hatte mit ihr spielen wollen.

 

„Meine Kleine.“ Sie nahm ihre Klugheit behutsam auf den Arm. „Endlich. Mama!“ „Ja, mein Kind!“

O Schreck, schoss es ihr durch den Kopf. Wie zieht man so eine Klugheit groß?

 

„Wird schon“, denkt sie sich. „Keine Klugheit wird alleine groß. Sie braucht andere Klugheiten zum Spielen. Kleine und große, glatte und widerspenstige, bunte und graue. Sie braucht Platz. Einen Garten. Geschwister.“

 

Die kleine Klugheit kuschelte sich an. Atmete ein paar Mal tief durch. Dann sprang sie wieder hinunter und ging ihren Weg. Furchtlos. Tapfer. Kreativ. Sie machte intuitiv alles richtig.

 

Sie wuchs und aß und trank. Muttermilch und Vaterbrot, Schwesternliebe und Brüderlichkeit. Und wenn sie Durst bekam, fand sie immer den Weg zur Quelle. Gott weiß, wie. Mama staunte.

 

Die Klugheit tat ihr gut. Mit ihr zu wachsen, mit ihr dem Leben etwas zuzutrauen. Die Welt zu entdecken. Die Nachbarn. Den Himmel.

 

Die Klugheit kam in die Pubertät. Und probierte sich aus. Wild und gefährlich. Das Feuer war entzündet. Funken sprühten. Mama wurde es Angst und Bang. Aber die kleine große Klugheit schlug sich tapfer. Mama wurde stolz.

 

Schön war es, dem Leben die Stirn zu bieten. Und den Nachbarn die Hand. Selbst wenn der Verstand intervenierte: Hat doch eh keinen Sinn. Die Klugheit wusste es besser. Und klingelte auch bei den neuen. Und es klappte.

 

Sie wusste nun, dass die Klugheit ihren Weg gehen würde. Sie konnte ihr vertrauen. Wusste, dass es sich lohnt, ihr die Bahn frei zu machen. Nicht ängstlich zu suchen, was alles passieren könnte. Das Wissen zu achten, die Erfahrung zu schätzen, der Intuition zu trauen. Das hatte sie von der Klugheit gelernt. Überhaupt hatte sie von ihr viel bekommen. Die Lust am Licht. „Hüte deine Flamme“, hatte die Klugheit ihr gesagt.

 

Die Flamme zu hüten. Auch wenn sie ihr mitspielen. Ihr die Dornenkrone aufsetzen und sie verspotten. Was für eine Aufgabe!

 

Die Flamme zu hüten, auch wenn sie ihr den roten Teppich ausrollen, sie mit Preisen dekorieren und sich mit ihr fotografieren lassen.

 

Die Flamme zu hüten, selbst wenn es um sie eng wird, wenn die letzten Freunde, die etwas im Kopf haben, gehen. Wenn nur die Alten bleiben und die Nazis.

 

Die Flamme zu hüten, weil die Klugheit das so macht.

 

Sie hatte geübt, den alten Worten zu glauben. Und dem, der sie gesagt hat. Überhaupt: IHN zu suchen. Mit ihrer Klugheit wurde sie also erwachsen. Reif für die Liebe. Bereit für Gott.

16.06.2015
Ulrike Greim