Eine geheimnisvolle Sprache HÜTEN und ÜBERSETZEN

Morgenandacht
Eine geheimnisvolle Sprache HÜTEN und ÜBERSETZEN
04.05.2015 - 06:35
03.04.2015
Pfarrerin i.R. Gabriele Herbst

Ich lebe gern. Und ich liebe vieles. Meinen Mann. Frische Blumen auf dem Schreibtisch. Gedichte und meine erwachsenen Kinder. An Freunden liebe ich besonders die, die mir Geschichten erzählen. Gute Geschichten haben mich schon immer genährt. Sie haben mir von Kindheit an das Atmen erleichtert, wenn mir aus Angst die Luft wegzubleiben drohte. Oder wenn ich keine Worte fand, mein Glück zu beschreiben.

 

Weil das so ist, liebe ich auch die Kirche. Sie ist für mich ein Haus, das Geschichten zum Atemholen hütet und erzählt. Uralte Geschichten der Bibel von Gott und den Menschen. Aber auch junge Geschichten. Mit jedem Baby fängt Gott an, eine neue Geschichte zu schreiben .

 

Ja, ich liebe die Kirche. Bei diesem Satz runzeln viele – nicht nur in meiner Heimatstadt Magdeburg – die Stirn. Das kann ich nachvollziehen. Denn man kann vieles aufzählen, was an der Kirche nicht liebenswert ist: Verbrecherisches Schweigen zum Holocaust im Dritten Reich, Missbrauch von Kindern, Weggucken und Wegducken in vielen Unrechtssystemen bis heute. Ja, das war und ist Kirche auch. Es ist ihre dunkle, unheilvolle Schattenseite. Die Kirche, die ich liebe, hat lichtvolle, heilende Seiten. Sie weckt Sehnsucht nach Frieden und Mut zu zivilem Widerstand. Sie spricht von den Hoffnungen der Menschen in einer kraftvollen Sprache, die nicht in Luftgespinste, sondern in liebevolles Zusammenleben übersetzt werden soll.

 

Die Kirche macht aufmerksam auf einen Gott, der Ansprechpartner und Kraftquelle für Menschen sein will. Sie erzählt von Jesus, der unbequem dachte und handelte. Der Klarheit und Gerechtigkeit in die Welt bringen wollte und nur scheinbar daran scheiterte. Sein Licht ist nicht auszupusten. Es steckt immer wieder Menschen an, Kirche neu zu bauen als Kirche, die den Namen Jesu verdient: eine solidarische, bescheidene und wahrhaftige Kirche.

 

Um so eine Kirche war auch Martin Luther bemüht, der wie die Kirche Licht- und Schattenseiten hatte. Bald ist es 500 Jahre her, dass seine 95 Thesen in Wittenberg die Reformation einläuteten. Das Jubiläum 2017 ist für Christen in aller Welt eine Chance zu einer Kircheninventur. Wo stehen wir? Sind wir noch brauchbar? Sind wir heilig oder scheinheilig? Warum bleiben die Leute weg? Warum kommen sie, und was suchen sie bei uns ?

 

Menschen aller Alters- und Berufsschichten haben mir bei meiner Kircheninventur geholfen. Ich habe sie aufgefordert, an 95 neuen Thesen für eine Kirche der Zukunft mitzuschreiben. Wie wünschen Sie sich die Kirche, habe ich gefragt. Ich war positiv überrascht, wie bereitwillig sie antworteten.

In vielen Thesen äußern die Befragten den Wunsch nach einer mutigeren, gesellschaftlich wirksameren Kirche. Sie soll klar und berührend sprechen. Dem Volk soll wieder aufs Maul geschaut werden, wie Luther es einmal ausgedrückt hat. Wie ist das zu schaffen?

 

Die Thesenschreiber haben damit selbst begonnen. Mit ihrer ganz eigenen Sprache haben sie Wünsche für eine Kirche von morgen aufgeschrieben. Sie soll nicht selbstverliebt sein. Sie soll Übersetzungshelferin sein für Glaubensaussagen, die fremd geworden sind. Sie soll ab und zu die Klappe halten, um dafür im richtigen Moment Mutiges und Aufrüttelndes zu sagen. Gasthaus für jedermann soll die Kirche sein, kein Freizeitjux, sondern Alltagstankstelle. In ihr soll gelacht und getrauert werden. In ihr soll drin sein, was drauf steht: Kirche Jesu.

 

Eine Kircheninventur mit solchen Anregungen macht mir Mut – zum Leben, zum Lieben. Zum Übersetzen.

03.04.2015
Pfarrerin i.R. Gabriele Herbst