Empört euch!

Morgenandacht
Empört euch!
von Christof Lenzen, Gera
07.09.2016 - 06:35
07.09.2016
Pastor Christof Lenzen

Das Abendessen ist vorbei und ich lasse mich angenehm gefüllt auf dem Sofa nieder, um mich über das Weltgeschehen zu informieren. Vor den Fernsehnachrichten zehn Minuten Kaufanreize, sprich: Werbung. Nun liebe ich gute Werbung. Ich bin schon als Jugendlicher in die sogenannte Cannes-Rolle gegangen, die einmal pro Jahr in den Programmkinos läuft und die besten und kreativsten Werbesendungen der Welt zeigt. Werbungen sind ein Spiegel der Gesellschaft und gleichzeitig formen sie dieselbe und das oft mit Gefühl, Humor und einem hohen Maß an Kreativität.

 

Wenn das aber so ist, wird mir bei den Kaufanreizen vor den Nachrichten angst und bange. Zehn Minuten lang Werbung für Medikamente. Gegen Prostataschwäche, Kopfschmerz, Knieprobleme, Vergesslichkeit: Vitamin hier, Vitamin da. Einzige Ausnahme: Eine Gewinnspiellotterie, die 1000€ Sofortrente über 10 Jahre verspricht. Zielgruppe hier wie da: Senioren oder die, die kurz davor stehen oder sich nur körperlich so fühlen. Ich fühle mich bereits zu Anfang der Nachrichten um Jahre gealtert nach diesem Werbebombardement der pharmazeutischen Unternehmen. Nun sind die nicht dumm. Sie untersuchen Zielgruppen. Und diese Untersuchungen zeigen: Junge Leute schauen keine Nachrichten. Sie informieren sich bestenfalls bröckchenweise über die sozialen Medien. Ob die allerdings eine halbwegs objektive Themenauswahl bieten? Auch Tageszeitungen auf gehobenem Niveau haben im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eine, wie ich finde, erschreckend geringe Auflage.

 

Mich macht das wütend! Ich will mich nicht damit abfinden und spreche jüngere Menschen auch darauf an, wann immer es sich anbietet. Mir macht das Sorgen, das Desinteresse und Schulterzucken nach der Masche: Man kann doch ohnehin nichts ändern! Von wegen! 2010 hat der ehemalige französische Widerstandskämpfer und UN-Diplomat Stéphane Hessel einen bemerkenswerten Essay veröffentlicht: Empört euch! 93 Jahre alt war Hessel und prangert in seiner Schrift an, was schief geht in dieser Welt und er ruft zu Empörung auf! Gegen alle Resignation und Gleichgültigkeit. Millionenfach ist dieses Essay verkauft und herunter geladen worden. Nichts anderes wünsche ich mir aus meinem christlichen Glauben heraus. Wach die Entwicklung der Gesellschaft wahrnehmen und sie aus Gottes Perspektive zu betrachten – das war auch die Aufgabe aller Propheten der Bibel. Damit waren sie relevant in der Gesellschaft! Sie waren dem Zeitgeschehen genauso verpflichtet wie der Heiligen Schrift und dem Lauschen auf Gottes leises Reden. Und so machten sie den Mund auf! Empörten sich. Weil Gott empört ist, wenn Menschen ungerecht behandelt, klein gemacht, entwürdigt werden. Wenn Geld und Macht über den Menschen stehen und nicht mehr den Menschen dienen.

 

Einer der großen evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, hat dazu einen herrlichen Satz formuliert: Wie man beten soll, das steht in der Bibel; und was man beten soll, das steht in der Zeitung. Links die Bibel, rechts die Nachrichten. So gehört es sich für einen Christen und dazu ruft auch die Offenbarung, das letzte Buch der Bibel auf. Die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und richtig zu deuten. Das geht nicht mit einem Rückzug in das Private! Natürlich kenne ich auch den Satz: Ich kann es doch nicht ändern. Mit meiner kleinen Kraft! Diesen Satz sollte niemand mehr sagen, der die Macht einer Mücke nachts im Schlafzimmer erlebt hat. Wie ein kleines Insekt einen ganzen Menschen wach hält. Nein: Die Weltgeschichte ist voll von kleinen Menschen, die die Welt verändert haben. Jesus war auch so einer. Seine Botschaft? Ein Gebet kann einen Berg versetzen. Das Kleine hat eine große gestalterische Macht. Meine kleine Kraft, mein geseufztes Gebet, mein Glaube in einen menschenfreundlichen Gott – das alles will ich nutzen, so gut ich kann – damit die menschenverachtenden und zerstörerischen Mächte nicht die Oberhand behalten. Empört euch. Leidenschaftlich. Im Gebet. Im Leben. Da, wo Gott sich empört.

07.09.2016
Pastor Christof Lenzen