Furcht ist nicht in der Liebe

Morgenandacht
Furcht ist nicht in der Liebe
29.06.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrerin Gabriele Herbst

Wenn der weltberühmte jüdische Pianist Menahem Pressler in seiner Heimatstadt Magdeburg Konzerte gibt, sind diese schon monatelang vorher ausverkauft. Als der kleine 92 –jährige Musiker im Mai dieses Jahres, auf den Arm des Chefdirigenten gestützt, die Konzertbühne des Opernhauses betrat, wurde für mich der ganze Raum so etwas wie ein „heiliger Ort.“ Die Besucher erhoben sich von den Plätzen für einen Ehrenbürger der Stadt, der 1939 Magdeburg verlassen musste, um sein Leben zu retten. Er war damals 14 und Kind einer jüdischen Familie, die in der Buttergasse ein Hosengeschäft betrieb. In der Pogromnacht von 1938 wurde der Laden zerstört. Das beschreibt er in einem Gespräch mit dem Musikjournalisten Holger Noltze: „Wir lagen auf der Erde im Dunkeln… Ich hatte Angst… Das war eine richtig schwere Angst… man hatte Angst, dass sie die Treppe heraufkommen und uns runter schleppen und schlagen…“ Durch einen befreundeten Nachbarn der Familie wurde vorerst das Schlimmste verhindert. Danach wurden Großeltern und weitere Familienangehörige Presslers in der Shoa ermordet.

 

Wie kann man nach solchen Erlebnissen so voller Musik und Güte sein, wie sie diesem Pianisten abzuspüren ist? Wie kann man so voller Freundlichkeit und Demut in eine Stadt grausamster Erinnerungen zurückkehren?

 

Durch die Schönheit der Musik, sagt Pressler. Sie habe ihm das Leben gerettet. Sie war immer das Gegengewicht zu all dem Schrecklichen, was er erleben musste. Und er gibt im Gespräch mit Holger Noltze eine eindrückliche Schilderung. Gefragt, wie er den Morgen nach der grauenhaften Pogromnacht angehen konnte, antwortet der Pianist: „.. am nächsten Tag saß ich am Klavier…ich war glücklich… ich war nur daran interessiert, das nächste Werk zu erobern… Die Angst kam nicht in die Nähe des Klaviers. Da gab es keine Angst. Da gab es wirklich nur das Suchen nach Schönheit.“

 

Diese Gedanken von Menahem Pressler erinnern mich an einen Satz der Bibel, im 1. Johannesbrief: FURCHT IST NICHT IN DER LIEBE. SONDERN DIE VÖLLIGE LIEBE TREIBT DIE FURCHT AUS.

 

Ich glaube, jeder und jede von uns braucht angstfreie Räume, in denen wir Traurigkeit und Schmerz abwerfen können. In denen wir vor seelischer Überforderung geschützt werden, Schönheit wieder sehen lernen und auftanken für das, wofür wir in der Welt gebraucht werden. Diese angstfreien Räume fallen uns meistens nicht zu. Wir müssen sie suchen, wie Pressler lebenslang das Klavier aufsuchte. Wir müssen uns auch disziplinieren, damit wir nicht in Bitterkeit versinken, in Selbstmitleid und soziale Trägheit. Pressler nennt das, „sein eigenes Leben zu vertiefen.“ Das klingt anstrengend und ist es oft wohl auch. Aber für Pressler und viele andere engagierte Menschen ist es der einzige Weg zu einem sinnerfüllten und glücklichen Leben – mit der Musik, die ohne Liebe nicht gedacht werden kann; oder mit Gott, der den Namen Liebe trägt...

 

Wenn man Pressler am Klavier spielen hört, nachdem er von Helfern an das Instrument gesetzt wurde und vor den Klaviertasten eine Minute der Ruhe einlegte, dann spürt man seinen angstfreien, wie ich es ausdrücke „heiligen Raum.“ Wenn seine zarten und unglaublich beweglichen Hände Mozart oder Beethoven interpretieren, dann weitet sich der ganze Raum aus. Die Zuhörer werden in ihn einbezogen. Geheimnisvoll und wunderbar. Und etwas davon kann man sogar am Radio spüren.

27.12.2015
Pfarrerin Gabriele Herbst