Großes Herz – eine Fastenaktion

Morgenandacht
Großes Herz – eine Fastenaktion
Fastendonnerstag
11.02.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx

Es gab schon merkwürdige Fastenbräuche in früheren Jahrhunderten. In Halberstadt wurde am Aschermittwoch ein armer Missetäter als „alter Adam” aus der Kirche gejagt. Er musste dann während der ganzen Fastenzeit barfuß betteln. Sieben Wochen lang bekam er Speise an den Kirchentüren, bis er endlich am Gründonnerstag beim Abendmahlsgottesdienst friedlich wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Als neuer Mensch, den die Fastenzeit gereinigt und verändert hatte. Ein Einzelner als Sinnbild für die ganze Stadt.

 

Wie mag man entschieden haben, wer da in Sack und Asche gehen sollte? Gab es heimliche oder öffentliche Sündenregister? Oder wurde einfach gelost? Und wie mag man den Ausgestoßenen angesehen haben, wenn er einem begegnete – auf den Straßen oder an der Kirchentür? Hatte man das Gefühl, dass es jedem so gehen könnte? War der arme Sünder eine Mahnung an die mit der reinen Weste, das eigene Leben unter die Lupe zu nehmen? Oder sah man eben doch auf ihn herab? Ich weiß es nicht - aber diese Fragen beschäftigen mich nicht nur in der Fastenzeit.

 

Was denken wir, wenn wir Obdachlosen begegnen in unserer Stadt. Sind sie ein Sinnbild für das Auseinanderdriften von Reichtum und Armut in unserem Land? Eine Erinnerung daran, wie leicht man abstürzen kann? Sehen wir sie überhaupt, wenn sie morgens ihr Nachtlager am Bahnhof ordnen oder mit dem Hund vor dem Einkaufszentrum sitzen, die Harmonika in der Hand, den Pappbecher mit Kleingeld vor sich? Kürzlich hat jemand vorgeschlagen, sich selbst einmal an diese Stelle zu setzen - nur diesmal mit einem gefüllten Becher. Und mit einer Einladung: „Greifen Sie zu – ich bin reich beschenkt“. Eine spannende Idee. Wie lange dauert es, bis jemand hinschaut, wenn einer einfach mal die Rollen tauscht? Mein Friseur hat einem der Obdachlosen, der immer an der gleichen Stelle Musik macht, statt Geld eine Bartcreme mitgebracht. Sein langer Bart, meinte er, wäre eigentlich besonders schön, weil er weniger Chemie brauchte als andere, die dauernd unter der Dusche stehen. Es kann eben auch zum Zwang werden, sich zu reinigen. Oder, schlimmer noch, die Gemeinschaft zu reinigen, in dem man andere ausschließt. Die Bettler aus der Stadt oder die Sünder vom Abendmahl.

 

Die Evangelien selbst erinnern daran, wie furchtbar das enden kann. Am Ende wurde Jesus selbst aus der Stadt gejagt - als Gotteslästerer gebrandmarkt starb er vor den Toren am Kreuz. Besser einer als das ganze Volk, meinten die Mächtigen. Dass er damit für alle starb, das passte dann aber doch. Denn er hatte sie alle an seinen Tisch eingeladen: die Kranken und Obdachlosen, die Zöllner und Sünder, die die Gemeinschaft ausgeschlossen hatte. Offen und großherzig.

 

„Großes Herz“ heißt die Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr. Eine Einladung, auf andere zuzugehen und sie direkt anzusprechen, offen und großherzig. Die Journalistin Jenni Roth zum Beispiel, die in einem Mietshaus in Berlin–Neukölln wohnt, hat sich drei Wochen Zeit genommen, um ihre Nachbarn kennen zu lernen. Manche hat sie auf der Treppe angesprochen, bei anderen hat sie sich getraut zu klingeln. Hier hat sie später Marmelade verschenkt, dort einmal Kinder gehütet. Und plötzlich nahm sie war, wie Gemeinschaft entsteht – und wieviel verbindende Fäden es schon gab in diesem Haus. Zwei machten Musik miteinander, jemand kaufte für den anderen ein. Das Treppenhaus mit den unbekannten Namen an den Klingeln, wurde allmählich zum Treffpunkt. Und am Ende entstand ein Gruppenfoto mit vielen lachenden Gesichtern. Türen öffnen statt Mauern ziehen, das weitet das Herz und auch den Blick.

 

Das wäre doch was, wenn wir in dieser Fastenzeit unseren Blick verändern. Auf unsere Nachbarn, auf die Menschen ohne Wohnung und Quartier und auch auf uns selbst. Weiße Westen gibt es nicht viele zu verteilen. Aber in manchen Städten stehen junge Leute an der Straße und verteilen free hugs, eine einfache Umarmung für die, die sich allein fühlen. Wenn wir heute Herz zeigen und einen Menschen umarmen, das wäre ein Anfang für diese Fastenzeit.

27.12.2015
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx