Heine und Luther

Morgenandacht
Heine und Luther
07.05.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrer Wolf-Dieter Steinmann

Manchmal ist es gut, wenn man die Brille wechselt. Und die Welt nicht nur in der eigenen Perspektive sieht. Und durch die Brille von heute. Manchmal ist es gut, ja nötig, sich die Brille eines anderen – gewissermaßen- zu borgen. Das kann die eigene Sichtweise relativieren. Im besten Fall erweitert es die Perspektive oder erneuert sie sogar.

 

Mir ist das so gegangen, als ich gelesen habe wie Heinrich Heine Martin Luther gesehen hat.

„Ruhm dem Luther!“ hat er geschrieben. Da war ich doch ziemlich überrascht.

Denn in letzter Zeit ist mein Lutherbild eher dunkler geworden. Ich habe immer häufiger auf seine Schattenseiten geschaut. Seine problematische Rolle im Bauernkrieg. Als er sich so radikal auf die Seite der Ordnung und der Macht geschlagen hat. Oder seine Ausfälle gegen die „Türken“, den Islam und die Muslime, und vor allem sein Wüten gegen die Juden.

 

Und dann habe ich Heine gelesen und mich gewundert. Heine war selbst ja Jude, aus dem Rheinland. Und das war zu seiner Zeit preußisch. Als Jude hat Heinrich Heine unter dieser protestantisch- deutschen Obrigkeit zu leiden gehabt. So sehr, dass er nach Paris ins Exil musste. Dort hat Heine eine ‚Geschichte der deutschen Religion und Philosophie‘ geschrieben. Er wollte den gebildeten Franzosen die deutsche Denkwelt verständlich machen. Darin schreibt er – erstaunlich ungetrübt und hell – ein Lob auf Martin Luther.

 

„Ruhm dem Luther! Von dessen Wohltat wir noch heute leben. Seine ..Fehler haben uns mehr genutzt als die Tugenden von tausend anderen. Die Feinheit des Erasmus und die Milde des Melanchthon hätten uns nimmer so weit gebracht wie manchmal die göttliche Brutalität des Bruder Martin.“

 

Eine ganz andere Brille, mit der Heine auf Luther schaut als viele heute, mich eingeschlossen. Dabei hat Heine gewusst um Luthers Ausfälle: „Göttliche Brutalität“, das ist deutlich.

 

Was unterscheidet die Brille Heines? Meine Sichtweise auf Luther ist geprägt durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Den Holocaust. Und dafür machen viele Luther unmittelbar mitschuldig. Trotz des Abstandes von 400 Jahren.

 

Aber ist es gerechtfertigt, Menschen der Vergangenheit mit den Maßstäben der Gegenwart moralisch zu messen? Wer besteht da noch? Zumindest ist es angeraten, die moralische Brille zu ergänzen, durch eine historische und die von anderen.

 

Heine jedenfalls sieht Luther anders. Für ihn beginnt mit Luther ein neues Zeitalter in Deutschland. Er schreibt:

 

Die Kette, womit der Heilige Bonifaz die deutsche Kirche an Rom gefesselt, wird entzwei gehauen. Die Kirche, die vorher einen integrierenden Teil der großen Hierarchie bildete, zerfällt in religiöse Demokratien.“

 

Heine fällt also nicht einfach ins positive Gegenteil: Das geschieht heute ja auch, wenn Luther quasi zum Gründervater politischer Demokratie erklärt wird. Das ist Luther sicher nicht. Aber seine Rolle für die Entwicklung „religiöser Demokratie“ sieht Heine mit klarem Blick. Und mit Luther ein neues Zeitalter des Geistes heraufziehen:

 

Indem Luther den Satz aussprach, daß man seine Lehre nur durch die Bibel selber, oder durch vernünftige Gründe, widerlegen müsse, war der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt, die Bibel zu erklären und sie, die Vernunft, war als oberste Richterin in allen religiösen Streitfragen anerkannt. Dadurch entstand in Deutschland die so genannte Geistesfreiheit, oder, wie man sie ebenfalls nennt, die Denkfreiheit. Das Denken ward ein Recht und die Befugnisse der Vernunft wurden legitim.“ (S. 37)

 

Soweit Heines Sichtweise auf Luther. Was er mir damit zu denken gibt? Freiheit des Denkens entsteht nicht dadurch, dass ich „meine Brille“, meine eigene Sichtweise, absolut setze.

Freiheit im Denken entsteht vielmehr, wenn ich meine Sichtweise, meine eigene Bewertung, brechen lasse durch die anderer. Das gilt nicht nur für das Urteil über Denker der Vergangenheit, sei es Luther, Marx oder wen auch immer. Erst recht braucht das Denken für die Zukunft die Brille derer, die anders sehen.

Für diese Erkenntnis bin ich Luther und Heine dankbar.

27.12.2015
Pfarrer Wolf-Dieter Steinmann