Hikkikomori

Morgenandacht
Hikkikomori
05.04.2018 - 06:35
01.03.2018
Angelika Obert
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Wie viele mögen es sein, die morgens aus dem Bett kommen voller Neugierde auf den kommenden Tag? Ich kann das von mir nicht behaupten. Meistens wache ich mit einem klammen Unbehagen auf: „Ach, ich muss aufstehen!“ Und dann fällt mir auch schon ein, was heute getan und geschafft werden soll. Da bleibt nicht viel Platz für Neugierde und Daseinsfreude. Ich komme mit Hilfe von Dusche und Kaffee nur einfach in die Gänge. Dass es auch anders sein könnte, ist mir erst wieder aufgegangen an einer Geschichte, die von einem jungen Mann erzählt, der sich dem Aufstehen überhaupt verweigerte. Eines Tages verschwand er in seinem Zimmer und kam nicht mehr heraus. Er wollte einfach nicht mehr funktionieren müssen in der Schule, nicht mehr mitmachen im Gerangel, nicht mehr Angst haben müssen vor den Urteilen der andern. Das gibt es ja gerade in Ländern, wo der Erfolg groß geschrieben wird, dass junge Menschen sich verkriechen, weil sie das Leistenmüssen nicht mehr aushalten. In Japan heißen sie Hikkikomoris, die Zurückgezogenen.

 

Von einem Hikkikomori erzählt Milena Michiko Flasar in ihrem Roman „Ich nannte ihn Krawatte“, vielmehr: Sie lässt ihn selbst erzählen. Zwei Jahre lang ist er in seinem Zimmer geblieben und hat den Riss an der Decke angestarrt. Hat sich nachts das Essen geholt, das die Mutter ihm vor die Tür stellte, und die Briefchen ignoriert, die dabei lagen, die inständigen Bitten um Kontakt. Natürlich hatten die Eltern anfangs versucht, mit Gewalt an ihn heranzukommen. Aber dafür war er taub.

 

Nicht ganz blind ist er für das Licht, das durch die Ritzen seines verdunkelten Fensters fällt. Es weckt eine Sehnsucht, der er schließlich nachgibt. Er schleicht sich nach draußen in einen Park – beim ersten Mal noch voller Angst vor den Menschen, die an ihm vorbei hasten. Dann merkt er, dass er auch auf einer Parkbank ganz unbehelligt sitzen kann und kommt immer wieder. Eines Tages bleibt die Bank gegenüber nicht mehr leer. Regelmäßig kommt da ein anderer, viel älterer Mann hin und verweilt wie er von morgens bis abends. Irgendwann nicken sie sich zu. Eine winzige Geste: der Anfang einer Beziehung zwischen den beiden, die aus der Welt gefallen sind. Der Alte hat zu erzählen von einem Leben mit sorgsam gebundener Krawatte, einem Leben, in dem er immer pünktlich bei der Arbeit war und dabei das Wesentliche doch versäumte: die Nähe zu seinem behinderten Kind. Jetzt hat man ihn im Büro entlassen. Er mag es seiner Frau nicht sagen. Er denkt, alles würde zusammenbrechen, wenn er morgens nicht mehr aus dem Haus geht. Der Junge beginnt auch wieder zu sprechen. Er hat zu erzählen von seinen Ohnmachtsgefühlen in der Schule. Miteinander finden die beiden heraus aus ihrer Verschlossenheit. Der Junge lernt: Auch in dem Andern, der scheinbar immer so gut funktioniert, ist ein Schmerz und es ist nicht furchtbar, wenn ich damit in Berührung komme. Irgendwann kann er wieder mit seinen Eltern an einem Tisch sitzen. Und dann heißt es an einer Stelle: „In mir ist Neugierde. Was kommt als nächstes? Wunderbar, solche Neugierde. (..) Morgens stehe ich auf und empfinde, während ich mir das Gesicht wasche, eine schlichte Freude daran, derart neugierig zu sein. Das Wasser ist lebendig. Es spült den Sand aus meinen Augen (..). Es ist, als ob ich erst üben müsste, so lebendig zu sein wie das Wasser.“

Was denn jetzt sein Ziel sei, wird er von einem Freund gefragt. Er antwortet: „Ganz herauskommen.“ Nicht bloß tun, was erwartet wird, sondern: ganz herauskommen. Ungewiss ist ihm allerdings, ob man ihn denn noch brauchen will, wo er doch diese Lücke im Lebenslauf hat.

 

Ich habe ihn gebraucht und seine Geschichte, um mich zu fragen: Wie ist es mit meiner Neugier bestellt, wenn ich morgens aufwache? Mit meiner Lust, lebendig zu werden wie das Wasser? Und auch das habe ich an dieser Ostergeschichte von heute verstanden: Manchmal ist es wohl nötig, sich dem Funktionieren zu verweigern, um das Leben wieder zu finden.

01.03.2018
Angelika Obert