Ich bin wunderbar?!

Morgenandacht
Ich bin wunderbar?!
31.05.2017 - 06:35
29.05.2017
Landespfarrerin Petra Schulze

Morgens in den Spiegel gucken und sagen: “Ich danke dir dafür, Gott, dass ich wunderbar gemacht bin!” – Für Lea keine Option. Für sie gibt es nur ein Ziel: Immer dünner (zu) werden.

Die Gefühle von essgestörten Frauen und Männern sind durcheinandergeraten. Oftmals fühlen sie sich tief verletzt. Manche sind traumatisiert. Manche einfach unsicher über ihre Gefühle und ihren Körper. Fühlen sich viel dicker als sie tatsächlich sind. Haben Angst vor dem, was sie nicht kontrollieren können. Essstörungen sind eine Sucht. Sucht ist eine Krankheit. Viele sterben daran. Man sagt so leicht, dass hinter jeder Sucht eine Sehnsucht steckt. Wenn ich Lea nach ihrer Sehnsucht frage, dann sagt sie: „Ich will abnehmen. Ich will endlich richtig dünn sein.“ Wofür das Dünnsein steht, was sie sich davon erhofft... Darauf weiß sie keine richtige Antwort. Manchmal sind die Gefühle einfach abgespalten. Sinn und Zweck des Lebens kreisen nur noch um Essen und Nichtessen.

Angefangen hatte bei Lea alles mit einer Diät. Sie wollte vor dem Sommerurlaub ein bisschen abnehmen. Das hatte auch geklappt. Und ihre Mutter hatte sie dabei unterstützt. Doch Lea ist noch nicht zufrieden. Hört nicht auf. Sie isst immer weniger. Und hat immer mehr Ausreden, nicht essen zu müssen.

 

Jetzt sitzt sie mit einer kurzen Hose am Tisch. Leas Mutter ist entsetzt. Doch Lea ist unglücklich: „Ich bin viel zu dick. Guck mal wie meine Oberschenkel aneinander schwabbeln.“ Da schwabbelt nichts. Die Oberschenkel liegen auf der Sitzfläche vom Stuhl auf. Und natürlich berühren sie sich ein bisschen. Aber die Knie sind spitz, Waden sind praktisch nicht mehr vorhanden. Leas Beckenknochen zeichnen sich unter der dünnen Baumwollhose ab und die Schlüsselbeine unter dem T-Shirt.

„So geht das nicht weiter.“ Sagt Leas Mutter. Doch Lea ist nicht mehr erreichbar. Sie macht zu, knabbert an einem Stückchen trockener Laugenbrezel und einer Gewürzgurke.

 

Mittlerweile hat Lea nur noch eine Freundin. Paula. Paula ist selbst ganz normalgewichtig. Sie hungert nicht. Und sie versteht Lea auch nicht. „Du bist bekloppt mit deiner Figur“, sagt sie immer. Lea fühlt sich einsam und findet neue Freundinnen im Internet - über verschlüsselte Plattformen. „Pro Ana“ heißt die Bewegung. Für Anorexie, also Magersucht. Die Mädchen und Frauen dort denken nicht, dass sie krank sind. Sie fühlen sich im Gegenteil auf dem richtigen Weg. Sie betreiben das Abnehmen wie eine Religion.

Sogar ein Glaubensbekenntnis findet sich dort: „Ich glaube an eine Welt, die nur aus schwarz und weiß besteht, an den Verlust von Gewicht, das Vergeben von Sünden, die Ablehnung des Fleisches und an ein Leben voller Hunger.“[1]

Nach dem Motto, nur dünn ist schön, zeigen sie einander Fotos von der Lücke zwischen den Oberschenkeln, die sie sich angehungert haben. Oder der Bikini Bridge – der Lücke zwischen Scham und Bikinihose, die entsteht, wenn das Höschen auf den herausstehenden Beckenknochen aufliegt. Oder von der Ab-Crack, der senkrechten Linie, die sich bei manchen zwischen der Brust und dem Bauchnabel abzeichnet, wenn der Körperfettanteil einer Frau nur noch bei bedenklichen 12 Prozent statt 20 liegt.[2]

Gefährliche Schönheitsideale. Denn die meisten Mädchen und Frauen können das trotz Training und Hungern nie erreichen. Ihr Körperbau lässt das nicht zu. Psychologen fordern deshalb: Wer auf diese Internet-Seiten stößt, sollte sie dem Jugendschutz melden.

Denn Magersucht ist eine Krankheit, die sehr häufig zum Tod führt. Andere sagen, die Pro-Ana-Seiten wären eine wichtige Plattform für die Mädchen. Sie tauschen sich aus über ihren Körper. Über das, was sie bewegt. Solange sie noch nicht bereit zur Therapie sind, ist das noch eine Brücke, die sie im Leben halten kann. Sie sind nicht ganz vereinsamt.[3] Und Verbote bringen nichts.

Ich wünsche Lea sehr, dass sie wirkliche Hilfe annehmen kann. Damit ihre Seele heilen kann und sie irgendwann, ohne Anstrengung und falsche Ideale, sagen kann: „Gott, ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele wohl.“ (Psalm 139, 14)

29.05.2017
Landespfarrerin Petra Schulze