Kein Ort nirgends: Menschensohn

Morgenandacht

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Kein Ort nirgends: Menschensohn
30.07.2015 - 06:35
16.06.2015
Pfarrerin Angelika Obert

„Heute tatest du mir weh. Heute sagtest du mir: geh. Und ich – ging.“[1] So schließt das Gedicht einer Fünfzehnjährigen, geschrieben an einem Dezemberabend vor gut 75 Jahren. Ein Liebeskummer-Gedicht. Gerichtet an einen Jungen, der mit Lyrik nicht viel am Hut hat und zu der jungen Dichterin lieber auf Abstand bleiben will.

 

Das erinnert mich an meine erste unmögliche Liebe. An eigene Erfahrungen von Zurückweisung. Wie das weh tut. Bestimmt habe ich sehr viele Tagebuchseiten verbraucht, darüber zu schreiben. Die junge Selma braucht nur wenige Zeilen. Sie jammert nicht.

 

Liebeskummer mit 15 – später denkt man: Na und? Das ist doch keine große Sache. Aber wenn ich mich so richtig zu erinnern versuche, weiß ich wieder: Gerade mit 15 war es eine sehr große Sache. Die Frage, ob ich akzeptiert werde oder nicht. Ob ich einen Freund habe oder nicht. Abgewiesen zu werden, am Rand zu stehen – das fühlte sich doch sehr verzweifelt an. So sehr, dass man's später so genau gar nicht mehr wissen will.

 

Aber wie tief mag eine junge Traurigkeit erst gehen, wenn es nur ein „jetzt“ und gar kein „später“ gibt? Sicher hat die fünfzehnjährige Selma Meerbaum-Eisinger das nicht gewusst. Aber eine Ahnung lag doch wohl über Cernowitz, wo sie zu Hause war – eine Ahnung von der schwarzen Wolke aus Hass und Vernichtungswut, die von Westen her nahte. Die Deutschen waren ja schon in Polen. Der Krieg kam näher und mit ihm die Bedrohung: Weg mit allen Juden. Selma, die Dichterin, ist mit 18 Jahren in einem Ghetto gestorben.

„Das ist das Schwerste: sich verschenken und wissen, dass man überflüssig ist, sich ganz zu geben und zu denken, dass man wie Rauch ins Nichts zerfließt.“[2] So ihre letzten Zeilen im Jahr 1941.

 

Wie sich Liebeskummer mit Fünfzehn anfühlt, davon habe ich eine Erinnerung. Wie es sich anfühlt, kein Bürgerrecht zu haben, weggetrieben zu werden, nirgends mehr sicher zu sein – das habe ich nie erlebt.

 

Selmas Verse sind für mich wie eine Brücke dahin, wo ich nie war. Sie helfen mir mitzufühlen mit den Unerwünschten und Abgewiesenen. Von denen es ja auch heute so unendlich Viele gibt – 60 Millionen, die rund um den Erdball auf der Flucht sind. Wo immer sie hinkommen, stoßen sie auf Menschen, die sie am liebsten wieder weghaben wollen.

 

„Heute tatest du mir weh. Heute sagtest du mir: geh...“ So schlicht ist das gesagt. Es reicht, um mich fühlen zu lassen: „Geh“ und „weh“ – das gehört zusammen.

 

„Geh“ – „hau ab“ – „verschwinde“ – „du gehörst nicht hierher“ – klingen diese Worte nicht wie ein Fluch? Und oft genug sind sie es auch – ein Fluch und eine Gotteslästerung im Sinn der Bibel.

 

Denn der Menschensohn Jesus, in dem Gott sich offenbart, teilt ja den Schmerz der Heimatlosen und Unerwünschten. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ heißt es im Evangelium. (Lukas 9.58)

 

Man will ihn weghaben, man wird ihn verfolgen und wegdrängen – und vertreibt zugleich Gottes Wahrheit aus der Welt, vertreibt Liebe und Gerechtigkeit.

 

Wer sich nach Gottes Segen sehnt, nach seinem Da-Sein in unserer Welt und im eigenen Herzen, kann andere Menschen nicht weghaben wollen. Gott kann nur da nahe kommen, wo ich nicht „Geh“ sage.

 

[1] Selma Meerbaum-Eisinger, Blütenlese, Gedichte, Hg. Markus May Reclam 2013, darin: „ Lied“ (S.11)

[2] a.a.O. „Tragik“ (S. 105)

16.06.2015
Pfarrerin Angelika Obert