Kinder und Armut

Morgenandacht
Kinder und Armut
19.09.2016 - 06:35
19.09.2016
Pfarrerin Petra Schulze

Paul wartet in der Toreinfahrt auf seine Mutter. Die ist bei der Tafel einkaufen. Paul geht da nicht mit hin. Er hat Angst, dass jemand aus der Klasse ihn sieht. Ihm ist es peinlich, dass sie arm sind.

 

Ein paar Straßen weiter. Lena ist mit ihrem kleinen Bruder Kaspar allein zu Hause. Wie jeden Tag wärmt sie das Mittagessen auf, das Mama ihnen in den Kühlschrank gestellt hat. Mama muss arbeiten, sonst kommen sie nicht über die Runden, weiß Lena. Zu Papa haben sie keinen Kontakt mehr. Er zahlt auch nicht für sie. An Klassenfahrten kann Lena nur teilnehmen, wenn Mama einen Antrag auf Unterstützung stellt. Das fühlt sich für Mama und Lena nicht gut an.

 

Cem wohnt in der Nordstadt. Hier leben Familien aus verschiedensten Ländern und Kulturen. Viele sind arm. Cems Familie auch. Er hat fünf Geschwister. Zu Hause sprechen alle fast nur türkisch. So richtig gut Deutsch kann Cem immer noch nicht. Und seine Noten sind mittelmäßig – trotz aller seiner Anstrengungen und Hilfen, die er in der Schule bekommt. Er braucht Nachhilfe. Aber dafür haben sie kein Geld.

 

Im evangelischen Kindergarten unterhalten sich Erzieherinnen und Kinder darüber, wie sie sich Gott vorstellen. Die vierjährige Sarah sagt: „Der gibt den Menschen zu essen und zu trinken.“ Und dabei sieht sie traurig aus und gleichermaßen hoffnungsvoll. „Der Jesus, der gibt den Menschen zu essen. Damit sie keinen Hunger haben“, wiederholt sie noch einmal. Die Erzieherinnen wissen: Das Mädchen bekommt zu Hause zu wenig zu essen. Die Familie ist arm. Beide Eltern ohne Arbeit. Sarah kommt oft ohne Frühstück und ihre Kindergartentasche ist leer.

 

Immer wieder begegne ich als Pfarrerin Eltern und Kindern wie Paul, Lena, Cem und Sarah, die wir in Deutschland als arm bezeichnen. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung hat. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist arm. Armut ist bei Kindern in Einelternfamilien sogar gewachsen.[1] Oft liegt es daran, dass der andere Elternteil den Unterhalt nicht zahlt.

 

„Jesus gibt den Menschen zu essen“, hat das Kindergartenkind Sarah gesagt. Sie hat das in den Geschichten gehört, die die Erzieherinnen von Jesus erzählt haben. Und dieser Satz bringt auf den Punkt, was aus christlicher Sicht zu tun ist und noch vielfach in der Bibel steht.

 

Sarah hat im Kindergarten zu essen bekommen. Die Erzieherinnen haben auch Sarahs Eltern besucht. Sie wollten wissen, was los ist und was sie für die Familie tun können. Armut wird heute gewissermaßen „vererbt“. Kinder brauchen gute Startbedingungen in ihr Leben, damit sie es einmal selbst verantwortlich gestalten können.

Die eigenen Fähigkeiten entdecken und ausbilden – dazu braucht es Raum, Anregungen, Zeit und – selbstverständlich – Geld.

 

Über Armut muss man politisch nachdenken, über eine Grundsicherung für Kinder zum Beispiel. Manche haben Bedenken, die Eltern würden das Geld für sich selbst ausgeben. Doch 90 Prozent der Eltern, so zeigen es Studien, wollen alles tun, damit es ihren Kindern besser geht.[2] Pauls Mutter kauft zum Beispiel für sich selbst nur gebrauchte Kleidung, damit Paul auch mal was Neues bekommt.

 

Man kann auch selbst etwas tun: An Aktionen teilnehmen wie eine Schultüte und einen Ranzen für jedes Kind. Ich kann meine Gitarre verschenken, die ich lange nicht gespielt habe – die Kirchengemeinde weiß vielleicht, wer sie gebrauchen kann. Ich kann ehrenamtlich mitarbeiten beim Mittagstisch für Kinder oder bei der Tafel. Oder ich kann in der Fahrradwerkstatt alte Fahrräder reparieren, die günstig abgegeben werden. Ich kann Initiativen unterstützen, die Eltern helfen, sich selbst zu helfen. Damit sie wieder Kraft und Ideen schöpfen, für sich und ihre Kinder gut zu sorgen.

 

Ob politisch oder privat, für beides gilt das frühe christliche Ideal aus der Apostelgeschichte (4,32-35): Vom Überfluss abgeben. Damit er so verteilt wird, dass alle haben, was sie brauchen. Vor allem Kinder. Aber selbst das ist noch ein weiter Weg.

 

[1] „Alleinerziehend in die Armut“ von Angelika Finkenwirth, Die ZEIT, 06.07.2016.

[2] http://www.ekir.de/www/service/kinderarmut-26591.php
https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/kinder-armut-familie-1/

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2016/september/kinderarmut-in-deutschland-waechst-weiter-mit-folgen-fuers-ganze-leben/

19.09.2016
Pfarrerin Petra Schulze