Kippmomente

Morgenandacht
Kippmomente
19.05.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Eine hölzerne Taube mit gebrochenem Flügel. Weiß mit rosa Füßen und rosa Schnabel. An unsichtbaren Nylonfäden festgemacht, so dass sie im Raum schweben und wieder fliegen kann. Diese Taube lebte, möchte man sagen, jahrzehntelang im Arbeitszimmer der Schriftstellerin Hilde Domin, in Heidelberg. Eines Tages 1961 entdeckt sie die Taube auf einem Madrider Flohmarkt, es ist Seelenverwandtschaft auf den ersten Blick.

 

Die Taube mit dem gebrochenen Flügel hat eine waghalsige Reise hinter sich. Wie Hilde Domin am Flohmarkt herausfinden kann, stammt sie aus einer Kirche aus dem 17. Jahrhundert. Hat sie über der Kanzel geschwebt? Wer hat sie beschädigt, wer hat sie gerettet und macht nun Geschäfte mit ihr? Wie für sie bestimmt, diese Taube mit gebrochenem Flügel. Für Hildegard Löwenstein, geboren in Köln, für die das Leben die zerbrechliche Existenz des Flüchtlings vorgesehen hat. Alles verlieren, alles zurücklassen, erniedrigt und verstoßen werden. Irgendwie überleben, im Exil und nie ganz ankommen. Das Schicksal jüdischer Frauen und Männer, das Hilde Domin mit vielen teilt in der Nazizeit ab 1933. Sie nimmt die Taube mit dem gebrochenen Flügel mit auf ihre große Reise zurück nach Deutschland und lässt sich für den Rest ihres Lebens in Heidelberg nieder.

 

Entzückt von der hölzernen Taube als Begleiterin, ist sie sicher darin, einen Heiligen Geist nun bei sich zu haben. Sie widmet ihr ein Gedicht. „Versprechen an die Taube“:

 

Taube,
wenn mein Haus verbrennt
wenn ich wieder verstoßen werde
wenn ich alles verliere
dich nehme ich mit,
Taube aus wurmstichigen Holz,
wegen des sanften Schwungs
deines einzigen ungebrochenen Flügels.

 

Erstaunlicherweise ist es nicht der gebrochene Flügel, der hier im Wort verewigt und festgeschrieben ist. Es ist der ungebrochene, der noch heile ganze Flügel mit dem sanften Schwung. Für diesen Blick auf die Taube bin ich Hilde Domin sehr dankbar. Sie schaut auf das Unversehrte, auf das Lebendige, auf die Möglichkeit. Dann kann man auch mit gebrochenem Flügel noch fliegen. Wie sie zu diesem Blick kommt, erzählt sie nicht. Dieser andere Blick ist wie ein Kippmoment, vom Schmerz zur Hoffnung, vom Tod zum Leben. So beschreibt sie es in eigener Interpretation.

 

Unsere Kissen sind nass von den Tränen verstörter Träume

Aber wieder steigt aus unseren leeren hilflosen Händen die Taube auf

 

Ein solcher Kippmoment ist im Gedicht die leere Zeile zwischen den verstörten Träumen und dem „Aber“. Genau so, glaube ich, erfahren Menschen Trost. Wenn ihr Gemüt kippt aus dem Schmerz in die Zuversicht: Es bewegt sich wieder etwas, die Starre löst sich, die Taube steigt wieder auf, ich sehe den einen ungebrochenen Flügel.

 

So, glaube ich, kommt der Tröster Geist, wie Jesus ihn verspricht. In eine Leerstelle der Seele. Sie wird damit ein Hohlraum für Gott. Hilde Domin hält diesen Kippmoment für alle Menschen fest, auch für die, die sich scheuen, das Wort Gott auszusprechen, oder ‚Gott’ gar nicht in ihrem Wortschatz führen. Ihre Gedichte kommen ganz ohne dieses Wort aus. Und sind doch Mutmacher. Starke Tröster in der Not.

27.12.2015
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen