Loslassen

Morgenandacht
Loslassen
27.11.2017 - 06:35
23.11.2017
Pfarrer Matthias Viertel
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Diese Woche ist eine besondere Woche. In der Tradition des christlichen Kalenders endet mit ihr das Kirchenjahr und gestern war der letzte Sonntag. Die Texte in den Gottesdiensten am Ewigkeitssonntag sprechen vom Kommen Christi und dem Reich Gottes, und viele evangelische Gemeinden gedenken ihrer Verstorbenen am Totensonntag. Manch einer besucht die Gräber seiner Angehörigen auf dem Friedhof. Und dabei denkt man zugleich auch zurück an das eigene Leben. Man denkt darüber nach, wie es gewesen ist, und was in Zukunft anders werden könnte, oder was sogar anders werden müsste, damit man am Ende sagen kann: Ja, es war gut so!

 

Der Wechsel des Kirchenjahres füllt diese Woche bis zum 1. Advent. Für den Glauben ist er besonders wichtig. Denn der Wechsel bietet Gelegenheit, Abschied zu nehmen auch von der eigenen Vergangenheit. Dann mit dem kommenden Sonntag kann alles neu anfangen; dann feiern Christen den ersten Advent, dann beginnt ein neues Kirchenjahr und ein neuer Lebensabschnitt, ganz vorsichtig zunächst mit einem einzigen Licht, andere folgen später. Solche Zäsuren im Leben sind wichtig. Die Religionen nehmen sie ernst, weil es zum Menschsein dazugehört, die eigene Existenz immer wieder zu hinterfragen, um dem Alltag eine neue Gestalt zu verleihen.

 

‚Loslassen’ ist dabei ein Stichwort, das im Zusammenhang mit dem Neuanfang immer wieder zu hören ist. Da wird dann gesagt, dass man das Loslassen lernen, ja sogar üben müsse. „Loslassen“ – das ist derzeit ein Begriff, der Inflation hat; ein Appell, der eine gewisse Leichtigkeit zum Ausdruck bringen und wohltuend klingen soll. Das Loslassen lernen wird immer dann zu einem Thema, wenn Menschen, Dinge oder Gewohnheiten, die einem liebgeworden sind, aufgegeben werden müssen. Das Loslassen lernen meint dann: nimm es nicht so schwer, lass dich davon nicht aus der Bahn werfen, besinn dich lieber auf dich. Schau nicht auf das, was andere dir andichten wollen, konzentriere dich lieber auf das, was dir selbst wichtig ist. Und entdecke dann auch, was gar nicht so entscheidend ist, auf was du gut verzichten kannst.

 

Es klingt in der Tat gut, so als könne man alles Belastende einfach mal loslassen und wegwerfen. Aber gerade weil es so verlockend klingt, bin ich skeptisch. Es könnte doch sein, dass Probleme erst dadurch entstehen, dass alles viel zu schnell losgelassen wird. Vielleicht wäre es gut, stattdessen lieber das Festhalten wieder zu üben. Es könnte doch sein, dass viele schwierige Situationen im Leben gerade dadurch zum Problem anwachsen, weil zu wenige Festhalten an dem, was mal versprochen wurde. Es ist so vieles, was leichtfertig aufgegeben wird: Familien zerbrechen, Freundschaften gehen in die Brüche, übernommene Aufgaben werden lästig und einfach zu den Akten gelegt. Dabei wird vieles losgelassen, was durchaus wertvoll ist. Den Wert dessen spürt man erst dann, wenn man es nicht mehr hat.

Warum sollte ich also nicht einmal versuchen, den Neuanfang zum Advent anders zu gestalten. Statt noch mehr loszulassen und immer weiter alte Bindungen aufzugeben, will ich besser prüfen, woran ich festhalten will – unbedingt, auch und gerade dann, wenn es schwer wird. Das könnte verschüttete Familienbeziehungen wieder auffrischen, ich könnte alten Freunden schreiben; Gewohnheiten wieder aufgreifen, die ich irgendwann mal aufgegeben habe, weil ich keine Zeit dafür hatte und die Arbeit immer in den Vordergrund gestellt habe. An alten Traditionen festzuhalten gehört für mich dazu: die Wohnung mit einem Adventskranz schmücken, die Lebkuchen erst im Advent essen.

 

Das alles hat eine Bedeutung – es zeigt, wie gut es ist, am Glauben festzuhalten, ja, und auch an der Kirche. Wie gesagt, auch und gerade dann, wenn es schwer wird. Wer nicht immer gleich loslassen will, sondern auch festhalten kann, wird auch spüren, wie wohltuend es ist, selbst festgehalten zu werden.

23.11.2017
Pfarrer Matthias Viertel