Luther und die Familie

Morgenandacht
Luther und die Familie
04.11.2017 - 06:35
26.10.2017
Jörg Machel
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Vielleicht war es die Gastfreundschaft, die ich als Kind in verschiedenen Pfarrhäusern erleben durfte, die mir den Weg in den Pfarrberuf geebnet hat. Es war jedenfalls eine ganz besondere Atmosphäre, der ich dort begegnet bin. In keinem anderen Haushalt des Dorfes gab es so prall gefüllte Bücherregale. Und da standen nicht nur Bibeln und Gesangbücher, Lexika und theologische Fachliteratur. Da waren Bücher aus allen Bereichen zu finden. Im Pfarrhaus wurde viel gelesen und zum Lesen ermutigt. Ich erinnere mich, noch während meiner Schulzeit die Tagebücher von Max Frisch bei unserem Pfarrer ausgeliehen zu haben. Das war lange bevor eine gekürzte Ausgabe in der DDR erscheinen durfte. Wenn ich zu Besuch in einem Pfarrhaus war, klang häufig Musik aus einem Teil des Hauses. Irgendjemand übte Geige, Posaune oder Klavier.

 

So war mir das Gemälde „Martin Luther im Kreise seiner Familie“ vertraut. Es hing in einer Ausstellung über das evangelische Pfarrhaus in Berlin. Für mich war es kein Abbild verkitschter Romantik, wie für manch andere Ausstellungsbesucher, es war eine liebe Erinnerung.

 

Pfarrhäuser wie ich sie in meiner Jugend in der DDR erlebte, waren tatsächlich ein wenig aus der Zeit gefallen. Die Stimmung allerdings war sehr unterschiedlich. Über manchen hing etwas Trauriges, Kärgliches, in sich Gekehrtes – zu ruhig, zu steif, um mich dort wohlzufühlen. Meist aber waren es Stätten freien Geistes. Die Familienkonferenz von Thomas Gordon lasen und diskutierten wir gemeinsam, auch die Ideen der antiautoritären Erziehung in der Schulgemeinschaft von Summerhill kam über Pfarrhäuser in unsere Köpfe.

 

Als ich Anfang der siebziger Jahre an einer Kirchlichen Hochschule mein Theologiestudium begann, lernte ich eine andere Seite des evangelischen Pfarrhauses kennen. Ich traf auf Pfarrerskinder, die an ihrer Herkunft zu knabbern hatten. Es gab das spezifische DDR-Problem, dass sie wegen ihrer Herkunft kein normales Studium aufnehmen durften und deshalb bei der Theologie landeten. Das Pfarrhaus in der DDR war eine Besonderheit der politischen Zeitgeschichte, doch das Phänomen des evangelischen Pfarrhauses fasziniert von seinen Wurzeln im Hause Luther bis auf den heutigen Tag. Von Friedrich Nietzsche bis Ingmar Bergmann, von Gabriele Wohmann bis Friedrich Dürrenmatt, von Gudrun Ensslin bis Angela Merkel gibt es bei der Betrachtung dieser Biografien immer den Versuch, die Leistungen und Fehlleistungen dieser Personen mit den besonderen Bedingungen ihrer Herkunft aus einem Pfarrhaus zu verbinden.

 

Ich komme aus ganz unkirchlichen Verhältnissen und bin nun selbst Pfarrer. Ich erlebe mich einerseits nun selbst in dieser reichen, auch aufgeladenen Tradition, andererseits bemerke ich gravierende Veränderungen. Noch immer ist das Pfarrhaus ein Ort, an dem Menschen klingeln und davon ausgehen, dass ihnen geholfen wird. Und die Pfarrfamilien, auch wir zu Hause, stellen uns dieser Herausforderung und versuchen, den Erwartungen gerecht zu werden. Wobei es für die Pfarrerskinder nicht immer einsichtig ist, den Beruf des Vaters oder der Mutter schon in Kindertagen und ungefragt mittragen zu müssen. Es kann nerven, durch Gemeinde und selbst durch die nichtkirchliche Umwelt unter einer Beobachtung zu stehen, die sich einzig aus der Herkunft ableitet.

 

Der Druck hat in dem Maße nachgelassen, in dem die Kirche an gesellschaftlicher Relevanz verloren hat – und das wird von Pfarrfamilien durchaus auch positiv vermerkt. Auch wenn ein paar Verletzungen bleiben, die meisten Pfarrerskinder, die ich kenne, sind dankbar, dass sie an einem Ort aufwachsen konnten, der ihnen eine Lebensfülle bot, wie sie sonst nur selten in der Gesellschaft zu finden ist.

 

26.10.2017
Jörg Machel