Luthers Thesen

Morgenandacht
Luthers Thesen
30.10.2017 - 06:35
26.10.2017
Jörg Machel
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31. Oktober 1517 – Doktor Martin Luther schlägt der Legende nach seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Morgen nun jährt sich das denkwürdige Datum zum 500. Male. Man kann das Jubiläum zerreden, indem man seine Historizität anzweifelt. Unbestreitbar jedoch sind die Folgen dieser Thesenveröffentlichung gegen den Ablasshandel. Gegen das Geschäft der Kirche, den Erlass von Sündenstrafen für Geld zu verkaufen. Ein kleines Mönchlein, in einem unbedeutenden Provinznest an der Elbe, hat mit seinem Wirken die Welt verändert.

 

Der Deutschlandfunk hatte es sich in den vergangenen Monaten zur Aufgabe gemacht, jede einzelne der 95 Thesen in liebevoller Textarbeit zu erläutern und von klugen Menschen kommentieren zu lassen. Keine leichte Kost, das wurde deutlich.

Doch Luthers Thesen waren ja auch nicht für die Massen bestimmt, sie richteten sich an ein Fachpublikum, an Professoren und Studenten, an Kleriker und Fürsten. Dass sie dennoch so schnelle und weite Verbreitung fanden, lag wohl daran, dass die Zeit reif war, ein Geschäftsmodell zu hinterfragen, das sich theologisch begründete, vor allem aber finanzielle Absichten verfolgte.

 

Als die Charta 77 von Prag ausgehend die Bürgerrechte auch für die Menschen im Ostblock einforderte, war ich Student in Ost-Berlin. Und ich konnte miterleben, wie aus einem Funken ein Flächenbrand wurde. Auch damals war die Zeit reif. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen schrie nach Veränderungen. Eine offizielle Verbreitung der Charta 77 über die DDR-Medien gab es nicht. Gehört hatten wir davon im Westradio und -fernsehen. Den Text haben wir Unterstützer dann selbst vervielfältigt, abgetippt mit der Schreibmaschine und fünf Blaubögen. Die letzte Seite war kaum mehr zu lesen und hatte nur noch Symbolwert.

 

Luthers Thesen verbreiteten sich als Flugblatt. Die Druckkunst war gerade erst erfunden und unterlag noch keiner strengen Zensur. Es wurde produziert, solange es eine Nachfrage gab. Wie gründlich die Thesenreihe dann studiert wurde, das darf gefragt werden, die Kernbotschaft aber verbreitete sich und erreichte auch das einfache Volk: Der Ablasshandel ist ein großer Schwindel, eine Gelddruckmaschine, die sich aus der Leichtgläubigkeit der einfachen Christenmenschen speist. In Wahrheit ist der Ablasshandel eine Gotteslästerung und gehört geächtet.

 

Im Kern ging es um mehr als um die Empörung über ein mieses Geschäftsmodell der Kirche: Es ging darum, wie unmittelbar und frei der Mensch vor Gott steht. Und zu Luthers Zeiten hieß das auch, die Machtverteilung zwischen Adel und Klerus in Frage zu stellen. Es ging um die Lebensverhältnisse derer, die lange durch frommen Hokuspokus ruhig gehalten worden waren.

Schaut man darauf, was der Thesenanschlag zu Wittenberg in Gang gesetzt hat, so entsteht bei mir der Wunsch, eine 96. These anzufügen, die zusammenfasst, was mich persönlich auch nach fünfhundert Jahren noch berührt. Mir genügen dafür sechs Worte und die lauten: „Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar!“ Das bündelt, was ich aus der zurückliegenden Dekade zum Reformationsjubiläum mitnehme. Und das ist noch immer eine mutige Botschaft, die Luther uns hinterlassen hat.

 

Wie sehr die Ideen der Reformation ausstrahlen auf die Freiheitsbewegungen der Neuzeit – das war mir nicht bewusst, als ich mich von den Thesen der Charta 77 begeistern ließ. So gesehen ist das Reformationsjubiläum für mich nicht bloß ein Gedenken an den Thesenanschlag, sondern auch eine Provokation und Herausforderung für die Zukunft. Denn nach wie vor gilt: Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar.

26.10.2017
Jörg Machel