Mit Grenzen leben

Morgenandacht
Mit Grenzen leben
Aschermittwoch
10.02.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx

Heute ist der Tag der ungeschminkten Wahrheiten. Im Bad vor dem Spiegel: das müde Gesicht ist grau und erschöpft. Die kleinen Falten, die Augenringe – da fällt es schwer, sich selbst ermunternd zuzulächeln. Lieber nicht so genau hinsehen und erst mal unter die Dusche. Es ist nicht so leicht, mit den eigenen Grenzen, dem eigenen Altern zurecht zu kommen.

 

Aber heute ist der Tag der ungeschminkten Wahrheiten. Das gilt auch auf der politischen Bühne. Es ist Aschermittwoch. Zeit zur offenen Abrechnung mit der Politik im Land für Parteien und Sozialverbände. Auch am sozialpolitischen Aschermittwoch der Kirchen wird es heute Veranstaltungen geben, in denen Rednerinnen und Redner die Situation im Land kritisch beleuchten. Ich hoffe auf klare Worte – mit Witz und Schärfe, aber ohne Beleidigungen. Jeder weiß: wenn uns die Wahrheit um die Ohren geschlagen wird wie ein nasser Lappen, dann schützen wir uns und weichen lieber aus.

 

Ich muss allerdings zugeben: der Aschermittwoch hat schon eine drastische Symbolik. Allein das Aschekreuz, das den Besuchern der Messe traditionell auf die Stirn gezeichnet wird. Du bist sterblich, heißt das. Dein Leben vergeht. Es stimmt ja leider – ich sehe das jeden Morgen im Spiegel. Der erste Anblick ist zunehmend gewöhnungsbedürftig. Gewaschen und geschminkt nähere ich mich meinem freundlichen Selbstbild wieder an. Aber der Aschermittwoch verlangt ja das Gegenteil: Abschminken, kahlscheren, die Masken absetzen und mich der nackten Wahrheit stellen. „Bedenke, Mensch, dass Du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst”, heißt es bei der Austeilung der Aschenkreuze.  Alles ist vergänglich. Wir sind verletzlich. Und wir gehen nicht immer angemessen damit um. Viele Probleme entstehen ja deshalb, weil wir unsere Grenzen überschreiten und schließlich tricksen, um stärker zu erscheinen, als wir sind. Das gilt für die Einzelnen, aber zum Beispiel auch in der Wirtschaft.

 

Müssen wir also alle in Sack und Asche gehen? Bußübungen sind jedenfalls nicht von gestern. Sie werden auch von Staatschefs in Japan oder von globalen Managern verlangt wie jüngst vom VW-Chef in Amerika. Wenn Grenzen überschritten sind, ist Demut angesagt. Hoffentlich nicht nur als Ritual, sondern als Haltung. Diese Haltung zu entwickeln, darum geht es in der Fastenzeit, die heute beginnt. Fasten kann empfindlicher machen für die Grenzen unseres Körpers und unserer Gesundheit. Vielleicht auch empfänglicher für das, was die Menschen um uns bewegt. Solidarischer mit den Schwächen der anderen. Das weiß jeder, der schon einmal geübt hat, auf Alkohol oder Zigaretten oder auch nur auf Kaffee zu verzichten. Am Anfang steht der Kampf mit der eigenen Müdigkeit und Übellaunigkeit, man fühlt sich dünnhäutig und verletzlich, bis diese Empfindlichkeit endlich zu einer neuen Stärke wird: wer ohne Suchtmittel auskommt, seine Nahrung umstellt, sich mehr Zeit nimmt für Sport und Bewegung, kann hellsichtiger werden und hellhöriger. Fasten richtet uns neu aus – es erdet und öffnet zugleich.

 

Ich denke an den jungen Mann, der, wie es in der Bibel heißt, in Saus und Braus lebte und sein ganzes Erbe verprasst hat. Die meisten kennen die Geschichte vom verlorenen Sohn. Er wird sich wirklich verloren gefühlt haben, als er am Ende weit weg von zu Hause als Schweinehirt arbeiten musste und auf der nackten Erde schlief. An den eigenen Träumen gescheitert. Aber genau in dieser Situation, als er ganz am Boden war, da richtet er sein Leben neu aus. „Ich will heimkehren und zu meinem Vater gehen“, heißt es im Gleichnis. Und er hat das Glück, dass sein Vater ein großes Herz hat. Er wird ihm entgegenkommen und ihn umarmen, diesen abgerissenen, müden und verzweifelten jungen Mann. Er wird in sein Gesicht schauen, ihn anlächeln und seinen Sohn in ihm erkennen. Er wird ihn neu einkleiden und ihm einen Ring an den Finger stecken. Kein Wunder, dass diese Geschichte so bekannt ist, dass so viele sie lieben: sie macht Mut, die eigenen Grenzen zu akzeptieren und auch die der anderen. Und dann gemeinsam neu zu beginnen. Vielleicht gerade heute – am Aschermittwoch.

27.12.2015
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx