Nachbarn

Morgenandacht
Nachbarn
29.05.2017 - 06:35
29.05.2017
Landespfarrerin Petra Schulze

„Klaus Müller wohnte in der Sonnenstraße. Er ist 67 Jahre alt geworden. In unserer Gemeinde hat er sich in der Holzwerkstatt engagiert. Mit den jugendlichen Geflüchteten hat er Ausflüge gemacht und sie bei den Hausaufgaben begleitet.“

 

Die Pfarrerin zündet eine kleine Kerze mit Regenbogenmotiv an und stellt sie auf den Altar. Dann nimmt sie eine zweite Kerze und sagt:

„Gisela Paul wohnte in der Tulpenstraße. Sie wurde 95 Jahre alt. Sie hat hier sehr lange ganz allein und zurückgezogen gelebt. Nun ist sie verstorben. Mehrere Tage lag sie tot in der Wohnung, bis es jemand merkte. Zur Gemeinde hatte sie keinen Kontakt, unsere Besuche hat sie abgelehnt.“

 

Die Pfarrerin zündet die Kerze an. Und betet für Klaus Müller und Gisela Paul. So geht das jeden Sonntag zu Beginn des Gottesdienstes. Die Kerzen für die Verstorbenen brennen die gesamte Zeit. Ich finde das sehr schön. Symbolisch leuchten da noch einmal die Seelen derer, die mitten unter uns gelebt haben. Lang oder nur kurz. Sie werden noch einmal sichtbar, gewürdigt als Teil der Gemeinschaft, der sie angehörten, auch wenn sie sich ferngehalten haben. Sogar wenn sie sich isoliert haben, wie Gisela Paul.

 

Helles, warmes Kerzenlicht – als Sinnbild für jede Seele, die gelebt hat. Ganz gleich wie offen und kontaktfreudig sie war oder wie scheu und zurückgezogen. Ganz gleich ob arm oder reich. Jede Kerze ist gleich groß und gleich schön. Und leuchtet für die Verstorbenen im Gottesdienst in die Gemeinde hinein.

 

Schade, dass ich sie erst jetzt wahrnehme, denke ich. Ein schöner Gedanke: Wir sind wie Kerzen. Seelen, die nicht nur für sich allein leuchten. Sondern auch für die anderen.

 

Gemeinde sein, das heißt für mich: sich kümmern um die anderen, die dazugehören. Ihnen nachgehen. Sie besuchen. Schauen, ob jemand etwas braucht. In den anonymen Großgemeinden der beiden großen Kirchen ist das ziemlich schwierig geworden. Nicht nur in den Großstädten. Trotzdem versuchen sie es: mit Besuchen zu Hause, mit Nachbarschaftswerkstätten, Foren im Internet oder Nachbarschafts-Apps fürs Smartphone.

 

Denn: Gemeinde ist wie gute Nachbarschaft.

Und was wäre ich ohne Nachbarn? Die Päckchen für mich annehmen. Mir aushelfen, wenn die Milch schlecht geworden oder das Brot ausgegangen ist. Die einkaufen, wenn ich krank bin und nicht aufstehen kann. Was wäre ich ohne Nachbarn, die meine Blumen gießen und die Katze füttern, wenn ich unterwegs bin.

 

Nachbarn. Klar, sie können auch laut sein, die Mülltonne verstopfen oder nicht grüßen. Und ja: Nachbarschaftsstreit füllt Akten und Zeitungen. Davon können viele ein leidvolles Lied singen.

 

Heute möchte ich gerne eine Kerze für die lebenden Nachbarinnen und Nachbarn leuchten lassen. Dafür, dass sie da sind. Helfen, zum Feiern einladen und einem mit einem kleinen Witz den Tag versüßen. Dafür, dass sie geduldig sind, wenn die Kinder schreien und der Hund bellt oder die Lieblingsmusik zum Staubsauger heult.

 

Die christliche Gemeinde ist ein guter Ort, zum freundlichen Nachbarn oder zur freundlichen Nachbarin zu werden. Wie in einer großen Familie gehören alle dazu. Und üben Gemeinschaft. Lassen sich aufeinander ein, denn sie gehören im Glauben zusammen. Auch wenn das manchmal ganz schön schwer ist.

 

Schon in der Bibel lese ich von Streit in den Gemeinden. Und schon damals ging es nicht immer nur um die Sache. Doch die Gemeinden haben sich immer wieder zusammengerauft. Haben um Gottes Hilfe gebetet, dass sie nach Streit wieder zusammen finden.

 

Gute Nachbarschaft – gute Gemeinschaft überhaupt: sie braucht den festen Willen, mich einzulassen auf die anderen und das Wissen: Wir gehören alle zusammen. Wir brauchen einander.

 

Und dazu braucht es kiloweise Toleranz, tonnenweise Geduld. Eine Prise Demut, eine Prise Mut. Kiloweise Humor. Und Gottes Geist, der die Herzen füreinander aufschließt. Der Mauern überwinden hilft und mich erkennen lässt: Im Kern bin ich den anderen viel ähnlicher als ich das manchmal meine. Ich will genauso wie die meisten geliebt sein, wertgeschätzt werden, dazugehören und gleichzeitig frei sein und selbst entscheiden können. Je nachdem. Ich kann anderen das sein, was sie brauchen und sie können es für mich sein. Gott sei Dank.

29.05.2017
Landespfarrerin Petra Schulze