Schlüsselerfahrungen

Morgenandacht
Schlüsselerfahrungen
08.02.2017 - 06:35
05.02.2017
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx

Ich mag es, wenn mein Schlüsselbund schwer in der Hand liegt – dann verlegt er sich nicht so leicht. Abends hat er seinen festen Platz am Schlüsselbrett, tagsüber am Lederriemen in meiner Handtasche. Wer kennt sie nicht – die Angst, den Schlüssel zu vergessen oder gar zu verlieren. Vielleicht behalte ich auch deswegen noch den einen oder anderen Schlüssel, mit dem ich eigentlich gar nichts mehr anfangen kann. Er macht den Schlüsselring schwer – und er weckt Erinnerungen.

 

Im Schlesischen Museum in Görlitz habe ich ein Schlüsselbrett gesehen, dass mich tief beeindruckt hat. Dort hängen an einfachen Nägeln die Wohnungsschlüssel von Heimatvertriebenen aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Eigentlich hätte man sie gar nicht mitnehmen dürfen – die Häuser wurden ja enteignet und anderen übergeben. Aber viele haben es dennoch getan und ihren Schlüssel Jahr um Jahr aufbewahrt oder bei sich getragen – den Schlüssel zur verlorenen Heimat, zu einem Ort, der für immer verschlossen sein sollte. Wahrscheinlich waren dort die Schlösser längst ausgewechselt – aber darum ging es nicht. Es ging um die Erinnerung an ein verlorenes Paradies, um den Traum von der Rückkehr, vielleicht auch um einen Anspruch.

 

Ich kannte das auch aus einem ganz anderen Kontext. Von den palästinensischen Familien, die ihre Wohnungsschlüssel seit der Vertreibung im Unabhängigkeitskrieg Israels aufbewahrt haben – inzwischen über Generationen hinweg. Als Zeichen für ihre Hoffnung, eines Tages zurück zu kommen. Die Frage nach dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge macht es schwer, den Nahostkonflikt zu lösen. Dass die Heimatvertriebenen in Deutschland heute als Touristen, Nachbarn, ja Freunde in ihre alten Dörfer fahren, ist im Vergleich ein Wunder:

 

Wer den Schlüssel hat, hat das Haus – oder er hatte es mal. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund, warum auch ich noch alte Schüssel am Bund habe: Ich hänge an den Orten, die mir die Schüssel erschlossen haben. Der Schlüssel zum Gartentor erinnert an Sommernachmittage. Und der zum Büro an viele spannende Jahre. Der alte Generalschlüssel passt schon lange nicht mehr – das ganze System wurde ausgetauscht. Aber solange ich ihn hatte, spürte ich das Vertrauen und die Verantwortung, die mir mit diesem Schlüssel gegeben war.

 

Einer der Jünger Jesu wird mit einem überdimensionierten Schlüssel dargestellt. Alte Kirchenschlüssel sehen manchmal so aus – oder Tresorschlüssel. Petrus mit dem Himmelsschlüssel ist in vielen Kirchen zu sehen. Das Bild geht auf ein Jesuswort zurück. „Ich will dir die Schlüssel des Himmels geben“, zitiert ihn der Evangelist Matthäus. „Was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ Das ist nun wirklich ein Generalschlüssel – und wer ihn bekommt, sollte verantwortungsvoll damit umgehen. Er öffnet keine reale Tür – so wenig wie die aus Polen oder Palästina. So wenig wie mein Schlüssel zum alten Gartentor. Aber genauso wie die anderen erschließt er viel mehr: Erinnerungen, Hoffnungen, Heimat – das Himmelreich. Dieser Schlüssel öffnet Herzen. Und er kann auch abschließen – kann Menschen und Geschichten schützen. Ich wünschte, Menschen hätten so einen Schlüssel, um all die unlösbaren Konflikte zu lösen – um verlorene Häuser und Heimaten, um Olivenhaine, Gärten und Arbeitsplätze. Ich wünschte, Menschen hätten einen Schlüssel, um mit ihrer Trauer und ihrem Verlust abzuschließen. Um Hoffnungstüren aufzuschließen, mit Worten und Zeichen, die Herzen erreichen.

 

Wer das Wunder selbst erlebt hat – in der Begegnung mit polnischen Nachbarn, in Gesprächsgruppen von Israelis und Palästinensern – wer erlebt hat wie scheinbar Unlösbares sich lösen kann, wie Festgefahrenes in Bewegung kommt, wie der Blick plötzlich klar wird, der kann diese Erfahrung weitergeben. So wie Petrus, der bei Jesus glauben lernte. Es war, als drehte sich der Schlüssel im Schloss, als öffnete sich eine Tür. Wer diese Erfahrung gemacht hat, wer den Himmelsschlüssel kennt, kann auch anderen das Herz aufschließen.

05.02.2017
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx