Spiegel und Bilder

Morgenandacht
Spiegel und Bilder
30.07.2016 - 06:35
30.07.2016
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz

Das Prunkstück des Schlosses in Versailles ist nicht ohne Grund der Spiegelsaal. Denn Spiegel waren selten und kostbar. Der erste Mensch, der sein Spiegelbild beim Trinken aus der Quelle im Wasser erblickte, ist vermutlich erschrocken. Vielleicht brauchte er einige Zeit, bis er merkte, dass er da keinen Angreifer, sondern sich selbst vor sich hatte. Eine ganze Weile später in der Menschheitsgeschichte gibt es aber auch das andere Extrem: jenen jungen Mann namens Narziss, der vor seinem Spiegelbild nicht erschrickt, sondern sich darin verliebt. Spiegel und ihre Macht haben die Menschen jedenfalls von Anbeginn an beschäftigt. Man erzählt sich von Zauberspiegeln, ob vom Spieglein an der Wand bei Schneewittchen oder dem Zauberspiegel bei Harry Potter.

 

Inzwischen sind Spiegel längst zum Alltagsgegenstand geworden. Der Spiegelsaal im Versailler Schloss lässt uns zwar nicht kalt, aber da wir inzwischen beinahe jedes Bürohaus mit spiegelnden Oberflächen versehen, sind wir schon einiges gewohnt.

 

Bei mir zu Hause hängen allein vier Spiegel verteilt in der Wohnung. Ohne den selbstverständlichen Blick in den Spiegel verlässt man in der Regel nicht das Haus, auch nicht als Mann. Und Autofahren z. B. ist ohne Rückspiegel gar nicht erlaubt. Keine Frage also, zunächst Spiegel haben nichts magisch-mystisches mehr, sie gehören zum Alltag. Dabei können sie ganz schön unbarmherzig sein. Das finde ich jedenfalls morgens immer häufiger, wenn ich mich im Bad erblicke. Spiegel sind eben objektiv, gehorchen den strengen Gesetzen der Optik. Wir haben gelernt, ganz selbstverständlich mit Spiegelbildern zu leben.

 

Dabei sind wir selbst so etwas wie ein Spiegelbild- oder ein Spiegel. Das behauptet jedenfalls die Bibel im Schöpfungsbericht. Jeder Mensch ist Ebenbild oder Spiegelbild Gottes. „Und Gott sprach“, heißt es da „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ und wenig später „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Ach Du liebe Zeit! Wie muss denn Gott aussehen, wenn die Menschen seine Ebenbilder sind. Das kann doch so nicht stimmen. Es stimmt in der Tat so einfach nicht. Denn dass die Menschen seine Ebenbilder sind, das war Gottes Schöpferwille. Was wir daraus gemacht haben, steht auf einem anderen Blatt. Der Spiegel – so könnte ich es im Bild sagen – ist jedenfalls ziemlich dunkel und matt geworden, das Silber an vielen Stellen abgeblättert. Und Gott ist seither nicht untätig geworden, um seine Spiegel, nämlich uns, wieder klar und sauber zu kriegen. Das ist jedenfalls der Inhalt der ganzen Heilsgeschichte, die die Bibel erzählt.

 

Wenn ich einen Blick auf diese Spiegel- oder Ebenbilder werfe, die sich Gott am Anfang gedacht hat, sehe ich außerdem doppelt: Spiegelbild Gottes ist man nämlich gleich vom Ursprung her als Mann oder Frau. Da hat keiner oder keine den Vorzug. Und genauso wie die Geschlechterdifferenz von Anfang an dazugehört, ist auch die Gemeinschaft der Geschlechter Gottes Schöpferwille. Der Mensch ist als soziales Wesen Spiegelbild Gottes, nicht als vereinzeltes Individuum. Natürlich ist es jeder und jede einzelne, aber als Ebenbilder Gottes sind wir füreinander bestimmt. Gott finden wir nicht als Narzissten in unserem eigenen Spiegelbild, sondern begegnen ihm im anderen. Wir sollen also uns selbst nicht für Götter halten und uns in unser eigenes göttliches Spiegelbild verlieben. Nur ein Schuss davon tut gut, morgens vor dem Spiegel. Wenn ich mir da sage, ich bin ein Ebenbild Gottes, verschwindet dieser hyperkritische eigene Blick auf mich selbst und ich kann mir sagen: Du bist von Gott gewollt und von ihm geliebt, so wie du bist. Davon auch nur ein wenig weiterzugeben ist, finde ich, wie Silber auf einem matten Spiegel. Den Nächsten lieben, heißt es schon im alten Testament, soll und kann ich so wie mich selbst.

30.07.2016
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz