Verpasste Chancen

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Verpasste Chancen
29.04.2017 - 10:00
08.05.2017
Gerhard Engelsberger
Über die Sendung

Jede Begegnung macht uns reicher. Und doch vermeiden wir es immer wieder, auf Menschen zuzugehen. Was wir dann erleben könnten, beschreibt Gerhard Engelsberger.

 

 

Wermutmüde und Tauben fütternd

Man übersieht ihn Brettschneider leicht. Zwei Tragtüten links und rechts, den Mantelkragen hochge­schlagen, zugeknöpft, sitzt er auf einer Parkbank, Kopf nach vorne ge­senkt.

Manchmal Tauben fütternd, manchmal schon gegen Mittag wermut­müde. Natürlich ist er friedlich, be­lästigt keinen, pfeift nicht einmal mehr den Mädchen der Ober­klassen vom nahegelegenen Gymnasium nach. Ir­gendwo zwischen letztem Schluck Kaffee und erstem Ampelstopp begegnen wir ihm jeden Morgen, begegnen wir ihm jeden Mor­gen - nicht.

Es kommt nicht einmal zu jenem funkelnden Augen­blick, an dem sich Wege kreuzen, Entscheidungen in Sekunden­schnelle fallen, der kurze Sekun­denbruchteil, wo sich Augen und Augen treffen. Dieses Blitzgespräch, Frage und Antwort und vor­bei.

Hunderte, Tausende dieser Begegnungen mit ent­gegenkommenden Passanten, auf Bahnhöfen, an der Ampel die kurze, wortlose Begeg­nung mit dem Vorbeifahrenden, mit denen, deren Nähe du spürst auf Zebra­streifen und Rolltreppen. Blicke tauchen in Geschichten.

Verlorene Geschichten

Bei Brettschneider kommt es nicht einmal dazu. Sie kennen Brett­schneider nicht? Genau das ist es, was ich meine. Brett­schneider kommt gar nicht dazu, Ihr Leben zu bereichern mit seinen Erfahrungen.

Hat keine Gelegenheit, von seiner Kindheit zu erzählen und dem großen Hund, vor dem er sich als Kind gefürchtet hat, wie hart er für sein erstes Mofa gearbeitet hat und wie stolz er war, als er im Elfmeterschießen den entscheidenden Treffer gemacht hat, wie seine Frau die Fotos mit seiner Freundin gefunden hat und wie er mit seinen Freunden an einem Wochenende die Garage aufgebaut hat.

Er kommt einfach nie dazu, weil ihm keiner begegnet.

Brettschnei­der ist eine meiner vielen vertanen Möglichkeiten.

Vielleicht achte ich doch einmal auf ihn, spre­che ihn an.

Da ist noch eines: Er ist mir fremd.

Er ist anders.

Und doch – ohne mich bleibt er ein Ohne-Mensch.

Mit ihm werde ich zu einem Mit-Menschen.

Das Gespenst des Menschen

Von Karl Barth kenne ich den Satz: „Der Mensch ohne den Mitmenschen ist nicht der Mensch, sondern das Gespenst des Menschen.“

Ich möchte mich eigentlich durchtasten durch ein Menschenleben und jeweils nach der Liebe und der Zärtlichkeit fragen. Nicht diskutieren und argumentieren. Das ist mir meist das Schlimmste an allem, dass diskutiert wird – discutere heißt „zerschneiden, in kleine Schnipsel zerlegen“. Ich möchte das Ganze stehen lassen. Brauche vielleicht auch länger als früher.

Ich bin – in Sachen Liebe – vielleicht das, was Jacques Monod meinte – ein Zigeuner am Rande des Universums, der aber nach der Mitte strebt. Nach der Mitte, um die sich alles dreht.

Ich weiß nur, bevor mir nicht jemand gesagt hat:

„Ich liebe dich“,  

kann ich nicht sagen:

„Ich liebe mich.“

 

„Warum machen Sie sich so abhängig von den anderen?“

fragt mich ein Psychiater?

„Weil ich Mensch bin unter Menschen, mit Menschen“

sage ich.

Ich bin ein Mit-Mensch.

Nein, ein Ohne-Mensch möchte ich nicht sein.

08.05.2017
Gerhard Engelsberger