The Artist is Present

Wort zum Tage
The Artist is Present
03.02.2017 - 06:23
02.02.2017
Pfarrer Hannes Langbein

Was passiert eigentlich, wenn sich zwei Menschen länger als sieben Sekunden in die Augen schauen? – „Sie küssen, sie kämpfen oder sie nehmen Reißaus.“ – Das jedenfalls meinte vor einiger Zeit die New Yorker Kuratorin Chrissie Iles in einem Kommentar zu Marina Abramovic´s Kunstaktion „The Artist is Present“.

Die in New York lebende Performance-Künstlerin, die der Performance-Kunst zu weltweitem Ansehen verholfen hat und vor kurzem ihren 70. Geburtstag feierte, hatte es darauf ankommen lassen: Über zweieinhalb Monate lang hatte sie sich von morgens bis abends im New Yorker Museum für Moderne Kunst auf einen Stuhl gesetzt und nichts anderes getan als anwesend zu sein und Menschen zu empfangen. Wie in einer Privataudienz konnten sich die Besucherinnen und Besucher des Museums der Künstlerin gegenüber setzen und ihr in die Augen blicken: Einer nach dem anderen, nur ein Tisch und ein Blick zwischen der Künstlerin und ihrem Gegenüber. – Die Aktion sprengte alle Rekorde: Nach zweieinhalb Monaten hatten mehr als 750 000 Menschen die Aktion gesehen und 1565 Menschen hatten Marina Abramovic gegenüber gesessen. Manche für ein paar Minuten, andere für mehrere Stunden. Viele begannen zu weinen.

Was hat es mit dem Blick auf sich? – Der Blickwechsel gehört sicherlich zu den intimsten Momenten der zwischenmenschlichen Kommunikation. Schon der Philosoph Jean-Paul Sartre hat das Ereignis des Blickwechsels beschrieben: Wie uns der Blick eines anderen Menschen zu Leibe rücken, wie er zur Bedrohung unserer Freiheit werden kann, weil er uns zum Objekt einer fremden Anschauung werden lässt. – Ganz anders sein Kollege Maurice Merleau-Ponty, der im Blickkontakt mit einem anderen Menschen das Ereignis einer intimen Gemeinschaft sah: Wer sich gegenseitig anschaut, der ist beim anderen. Wer sich gegenseitig anschaut, ist sich auf Distanz ganz nah.

„Ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht, denn du hast mich freundlich angesehen.“ So formuliert es der biblische Stammvater Jakob gegenüber seinem Bruder Esau, als sich die beiden nach Jahren der Trennung wiedersehen. Jakob hatte Esau Jahre zuvor um sein Erstgeburtsrecht betrogen. Und es herrschte Feindschaft zwischen ihnen. Doch jetzt, da sich die beiden wiedersehen, überwältigt sie die Wiedersehensfreude. Das zugewandte, freundliche Gesicht, der offene Blick wird zum Zeichen der Liebe Gottes.

Vielleicht hatten deshalb so viele Menschen Tränen in den Augen, als sie Marina Abramovic gegenüber saßen...

02.02.2017
Pfarrer Hannes Langbein