Das ist kein böser Mann

Wort zum Tage
Das ist kein böser Mann
23.07.2015 - 06:23
23.06.2015
Pfarrer Rainer Stuhlmann

„Wenn ich auch im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht.“  (Micha 7,8) Meist fallen mir Menschen ein, auf die das eher zutrifft als auf mich. Im Finstern sitzen. Hier im Nahen Osten. Zum Beispiel in Syrien. In den von Israel besetzten Gebieten kann ich mir auch selber ein Bild davon machen, in welcher Finsternis die Menschen leben. Oft besuchen wir dort unsere Freunde. Christliche Palästinenser.

 

Sie leben als Minderheit in einem weitgehend vom Islam geprägten Land. Aber schwieriger noch ist das Leben unter israelischer Besatzung. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Da ist es nicht leicht, dem Unrecht zu widerstehen, ohne Gewalt anzuwenden, und die Kinder zur Gewaltfreiheit zu erziehen. Ich bin beeindruckt, wie sie in diesen finsteren Zeiten Jesus, dem Licht der Welt, folgen. Denn Jesus verbietet ja nicht nur Gewalt zu üben, sondern auch dem Unrecht tatenlos zuzusehen.

 

In jedem Menschen ein Geschöpf Gottes sehen. Das sagt sich so leicht aus der Entfernung. In Europa. Wer in finsteren Konflikten steckt, kann sich nicht so leicht dem Sog entziehen, im Fremden den Feind zu sehen. Und Kinder müssen auf diesem Weg begleitet werden.

 

Unser Freund versucht zu Hause zu sein, wenn sein dreijähriger Sohn ins Bett geht. Eine Gute-Nacht-Geschichte und ein leise gesummtes Lied wiegen den Kleinen in den Schlaf.

 

„Vor ein paar Tagen wollte ich gerade das Zimmer verlassen“, erzählt der Vater, „weil ich annahm, mein Sohn sei eingeschlafen. Da rief der Muezzin vom Minarett der nahe gelegenen Moschee zum Abendgebet. Laut schallte es von draußen herein. Der Kleine schreckte auf und rief ängstlich: ‚Warum schreit der böse Mann so?‘

Was soll ich antworten? Einerseits war auch ich genervt, dass er mein Kind aus dem beginnenden Schlaf gerissen hatte. Andererseits verstand ich plötzlich, wie entscheidend meine Antwort sein würde. Ich könnte jetzt einstimmen in die Klage meines Kindes über den ‘bösen Mann‘. Aber wenn Licht in die Finsternis kommen soll, dann muss ich anders antworten. Welches Bild das Kind von Muslimen gewinnt, liegt jetzt in meiner Hand.

Das ist kein böser Mann‘, sagte ich. ‚Er ist lieb. Er betet und singt ein Lied für Gott. Wie wir wenn wir vor dem Essen singen.‘ Dann sah ich, wie mein Sohn die Hände faltete, seine Augen wieder schloss und seine Gesichtszüge sich entspannten, während der Muezzin weiter rief.“

 

Eine kleine Szene aus Palästina. Ich bin überzeugt, dass mit solchen kleinen Geschichten das Licht Gottes in die Finsternis eindringt.

23.06.2015
Pfarrer Rainer Stuhlmann