Die Tränen des Josef

Wort zum Tage
Die Tränen des Josef
von Domprediger Michael Kösling, Berlin
30.08.2016 - 06:23
29.08.2016
Domprediger Michael Kösling

Ob Klassisch oder Patchwork , Wie auch immer: Die Familie ist für viele so etwas wie ein Refugium, ein Rückzugsort , in dem Anderes gilt, als in der Welt da draußen, in der man sich beweisen und behaupten muss. An Familie werden andere Maßstäbe angelegt und andere Erwartungen gestellt. Manchmal überfrachtet. Die Familie ist ein Ort der Sehnsucht und der Hoffnung auf Schutz und Wahrhaftigkeit. Deshalb halten es viele so, sich mindestens einmal im Jahr zu sehen. Alle zusammen. Von weit weg wieder an einen Ort kommen. Familienfeste können etwas Wunderbares sein. Können aber auch Pulverfässer sein. Man weiß nie, wie man wieder auseinandergeht. Manchmal heillos verstritten. Da kommt die auf Krawall gebürstete Schwägerin. Der pubertierenden Nichte sieht man schon von weitem an, dass sie von alle dem überhaupt nichts hält. Oder der jüngste, der neunmalkluge und – wer weiß warum – erfolgreichste Bruder. Selbstbewusst war der schon immer! Geliebt von seinem Vater. Bewundert von allen. Gehasst von seinen Brüdern. Wie Josef, von dem die Bibel erzählt. Josef wird von seinen Brüdern verraten und verkauft und wird verschleppt in ein fremdes Land. Er war für sie gestorben. Eine irre Geschichte nimmt ihren Lauf. Am Ende stirbt der Vater und die Söhne sind wieder vereint. Sie bitten Josef um Verzeihung. Und Josef … weint. Nach allem, was seine Brüder ihm antaten, weint er. Die Tränen, die Josef vor seinen Brüdern vergießt, waschen einen kostbaren Schatz. Was echte Vergebung ist, wird frei gelegt. Trage doch das Verbrechen deiner Brüder und ihrer Schuld, sind die letzten Worte, die Josef von seinem Vater hört. Was für ein letzter Wille. Wörtlich soll Josef das Verbrechen aufheben und es selbst tragen. Übermenschliches wird ihm abverlangt. Wie durch ein Wunder gelingt es. Eigentlich kann so eine Schuld nur getragen werden, wenn die Brüder in einem anderen Licht erscheinen. Wenn sie nicht nur als Menschen aus Fleisch und Blut gesehen werden, sondern als Geschöpfe Gottes. Und als Geschöpfe Gottes sind wir Menschen mehr als die Summe unserer Taten. Als religiöse Menschen stehen wir nicht nur vor unserem eigenen Gericht und vor dem anderer Menschen, sondern immer auch vor dem Angesicht Gottes. Wir sind von Gott angeschaut, das heißt, im Letzten den menschlichen Urteilen entzogen. Unser Leben mit Schuld müssen wir als religiöse Menschen nicht restlos unter uns ausmachen. Religiöse Menschen rechnen mit den Möglichkeiten Gottes, der mehr sieht und etwas anderes als sie selbst. Die Josefsgeschichte! Eine Mutmachgeschichte für Familien – gerade für solche, die heillos zerstritten sind.

29.08.2016
Domprediger Michael Kösling